Wir sagen Du! Schatz.
von Peter Schäfer (Kommentare: 0)
Ein Film von Marc Meyer
Wir sagen Du! Schatz.
Der 36-jährige Oliver Eckstein (Samuel Finzi) entführt sich kurz vor Weihnachten eine Familie und verschanzt sich zusammen mit der Beute-Verwandtschaft in den 17. Stock eines abbruchreifen Hochhauses. Hoch über Berlin gibt er den Familienpapa für eine gekidnappte Ehefrau, eine Oma, zwei Kinder, einen Säugling und einen Hund. Später kommt noch ein Opa hinzu, der sich im gleichen Gebäude gegen Zwangsräumung verbarrikadiert hat.
Oliver ist ehrlich bemüht, so etwas wie ein Gefühl von Wohnung und Zusammengehörigkeit innerhalb des Patchwork-Ensembles zu etablieren. Er kommt dabei aber nicht über die Rolle eines Mini-Stalins hinaus. Disziplinierungs- und Zuchtinstrumente sind zunächst der Essensplan und die Hausregeln, später fuchtelt er auch noch mit einer Pistole durch die Gegend.
Wer sich weigert, in Olivers Version von „Modern Family“ mitzuspielen, wird bestraft, auf subtile, aber unnachgiebige Weise. Und da sich das von ihm gewünschte Stockholm-Syndrom bei seinen Geiseln - sorry, seiner Familie - nicht einstellt, fühlt es sich im 17. Stock bald an wie in einer Mischung aus Jugendherberge, alternativer Wohngemeinschaft und Gulag.
So weit, so schräg. Und man ist gespannt, wohin der Zug mit dieser Story im Schlepp in der nächsten Stunde hinfahren - und vor allem, wo er ankommen wird. Allerdings zieht sich die Fahrt, die dramaturgische Landschaft ist wenig hügelig. Die mitfahrenden Passagiere sind zahlreich und die Zeit knapp. Und so wird es schwer, mit jedem einzelnen so vertraut zu werden, um etwas für ihn zu empfinden. Diese latent emotionale Distanz zu den Akteuren wird auch bis zum Ende des Filmes nicht wirklich geringer. Am nächsten kommen einem noch die Figur des Opa Horst („Ich hab hier alles, was ich brauche.“) und Mutti Sofia, die schon aus Prinzip versucht, der Gefangenschaft zu entfliehen, obwohl auf sie draußen auch kein besseres Leben wartet.
Was hat die Hauptfigur dazu gebracht, sich Leute für unter den Weihnachtsbaum zu kapern? Welches Trauma hat er erfahren? Welche Störung treibt ihn an? Oder hat er doch einfach nur eine schwere Macke und gehört ins Heim? Ist es normal, dass jemand wildfremde Menschen zwangsadoptiert und sich aus ihnen ein lebendiges Bühnenbild bastelt, vor dem er ausgerechnet das Fest der Liebe und der Familie begehen will? Will Oliver eine Botschaft vermitteln? Will er fremde Menschen zu ihrem Glück zwingen? Oder nur sich selbst therapieren?
Die Antwort auf all diese Fragen bleibt die Geschichte schuldig. Und auch ein nachvollziehbarer Spannungsbogen, an dem man sich entlanghangeln könnte, ist nur zart angedeutet. Teilweise ist es ein bisschen so, als wenn man in ein Terrarium schaut, in dem merkwürdige Tiere komische Sachen machen. Und so bietet auch der Film einige schöne Szenen, zwischenmenschliche Miniaturen und geistreiche Dialoge.
Am Ende löst sich allerdings alles irgendwie in Wohlgefallen auf. Keine Verletzten, keine Toten, keine Polizei. Alle gehen ihrer Wege.
War was?
Autor und Regisseur
Vor vielen Jahren hatte ich das Vergnügen, den Autor und Regisseur Marc Meyer persönlich kennenzulernen. Inzwischen hat er mit dem Film in aller Konsequenz seine Idee durchgesetzt und ist den Weg zu Ende gegangen, den viele ambitionierte Autoren/Regisseure einschlagen. Die meisten geben unterwegs frustriert und zermürbt auf. „Wir haben seriös kalkuliert, spartanisch gelebt.“, versichert Marc. Klar war aber auch, dass „Wir sagen Du! Schatz.“ mit 15 Kopien, die für die deutschen Kinos zur Verfügung standen, keine Goldgrube werden konnte. Immerhin hat die Produktion ihn nicht ruiniert. Der Film wurde auch auf Festivals gezeigt und sammelte Preise ein.
Mit Kosten von ca. 350.000 Euro ist „Wir sagen du! Schatz!“ eine Low-Budget-Produktion. Ein Film von der Länge und mit einer solchen Besetzung wird unter „normalen“ Umständen mit dem doppelten oder dreifachen Budget realisiert. Gedreht wurde an 17 Tagen in einem selbstgebauten Studio sowie in und um einen leerstehenden Wohnblock am Ostbahnhof in Berlin.
Angesichts des schmalen Budgets überrascht die feine Besetzung der Rollen. Samuel Finzi war damals am Theater sehr bekannt und auch Nina Kronjäger und Anna Mühe waren gut gebucht. Marc ist sicher, dass es vor allem die Rollen bzw. das Drehbuch war, das sie letztlich zum Mitmachen bewegt hat. Die Lust und die Freiheit beim Spielen, die er den Akteuren vorab versprach, hätten sie sicherlich auch geködert, erinnert sich Marc. Die Akteure durften die Szenen ohne Unterbrechung und Tabus durchspielen. Erst hinterher schaute man sich an, was die Kamera eingefangen hatte. Harald Warmbrunn, ein Defa- und Volksbühnen-Urgestein (u.a. „Solo Sunny“ und div. Castorf-Inszenierungen), der im Film den „Opa Horst“ spielt, hatte für die Rolle mit der Feststellung zugesagt: „Das muss ich nicht spielen, Marc. Das bin ich.“ (traurige Anmerkung: Harald Warmbrunn ist am 18.12.2020 im Alter von 87 Jahren gestorben).
Ich wünsche Marc 13 Jahre nach der Veröffentlichung des Filmes weiterhin viel Erfolg. Den Lesern von rotundgrau.de lege ich ans Herz: schaut Euch diesen Film an! Er ist ein Gegenentwurf zu dem, was dem deutschen Film ansonsten zum Thema Familie im Allgemeinen und zu Weihnachten im Besonderen einfällt. Vor allem aber, im Fernsehen werdet Ihr ihn nicht zu sehen bekommen.
https://www.amazon.de/Wir-sagen-Schatz-Samuel-Finzi/dp/B08QNHN9NY
Ein Interview dazu findet Ihr außerdem hier
https://www.focus.de/kultur/kino_tv/interview_aid_139475.html
Und seine persönliche Webseite hier
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