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Wiederholungstäter

von (Kommentare: 1)

Sie haben es wieder getan. Die Müritzer Schreibfedern zeigen nur zwei Jahre nach dem Erscheinen ihres ersten Buches, dass noch lange nicht Schluß ist. Mit dem Schreiben und mit dem Leben. Fast auf den Tag genau, am 10. 10. 2023, hatten sie am selben Ort, im Schmetterlingshaus in Waren an der Müritz, ihr erstes Buch vorgestellt. Das war bereits eine bemerkenswerte Leistung, nur zwei Jahre nach Gründung der Gruppe durch Dagmar Mayer.

Und nun Nummer zwei. Nach „Lebenswege - Geschichten aus der Heimat“, nun „Jahreszeiten - Geschichte aus dem Leben“. Mehr Seiten. Mehr Geschichten. Mehr Buch. Jede Erzählung und jedes Gedicht gespeist aus dem persönlichen Erfahrungsschatz der Autoren.

Alle Welt redet derzeit von künstlicher Intelligenz. Es wird gemutmaßt, dass sie unter anderem auch den Menschen in vielen Bereichen überflüssig machen wird. Was die Schaffung von Texten betrifft, so steckt hinter dieser Auffassung eine ordentliche Portion Überheblichkeit, da sie jede Art von Urheberschaft außer acht lässt.

Ein Algorithmus denkt sich schließlich nichts aus, er klaut sich zusammen, was er braucht. Aus dem, was richtige Menschen in einem richtigen Leben erlebt und geschaffen haben, bedient sich die Maschine. Was sie erreicht und verwerten kann, setzt sie zu etwas Neuem zusammen. Auf dem Weg dahin werden Quellen verschwiegen und Spuren verwischt. Schneller, als ein Mensch zu denken vermag, spucken die Programme schließlich druckreife Texte aus. Und etliche sind dabei sogar besser als die Arbeit vieler Autoren, die mit weniger Talent ausgestattet sind und versuchen, ihr Bestes zu geben.

Das ändert allerdings nichts an dem größten Makel eines algorithmisch erstellten Textes. Künstliche Intelligenz hat nichts von dem selbst durchlebt - und gravierender noch - nie gefühlt - worüber sie sich auslässt. Wie will ein Gehörloser über die Schönheit und Anmut von Musik erzählen? Ein Blinder vom Leuchten der Farben. Was weiß eine Apparatur - ein Programm ohne Herz - über Freude und Schmerz, über Triumph und Trauer? Was keine Maschine hervorbringen und keine körperlose Intelligenz empfangen kann, verbindet lebende Autoren und ihre Texte mit menschlichen Zuhörern: Seele.

Am 7.10.2025 sind die Autoren und das Publikum allesamt aus Fleisch und Blut. Sie schöpfen aus ihrer Lebenserfahrung und zahlreichen Gefühlswelten. Nichts daran ist künstlich oder gekünstelt. Emotionalität dient nicht als dramaturgisches Stilmittel. Durchlebte Gefühle werden preisgegeben und geteilt.

Auch die zweite Anthologie der Müritzer Schreibfedern erzählt von der Kunst zu leben. Ein Leben lang. Und für einige der Autoren und Autorinnen währt das bereits sehr lange. Seit dem ersten Buch sind sie nun auch schon wieder zwei Jahre reifer geworden. Noch immer graben sie fleissig aus, was ihre Erinnerungen hergeben. Und so unterschiedlich die Mitglieder der Gruppe sind, so unterschiedlich sind auch ihre Geschichten. Thematisch und stilistisch.

Wie wichtig die kreative und gemeinschaftliche Beschäftigung für die Mitglieder der Schreibgruppe selbst ist, betonte Warens Bürgermeister Norbert Möller in seiner Laudatio. Er wünschte sich und der Stadt mehr soziale Eigeninitiativen, wie sie von den Müritzer Schreibfedern beispielhaft vorgelebt wird.

Der Verleger hat das Wort

Ihr lieben Federleichten,

ganz herzlichen Dank für die Einladung zur offiziellen Vorstellung Eures Buches „Jahreszeiten - Geschichten aus dem Leben“.

Es war mir wieder ein ausgesprochenes Vergnügen mit Euch zusammenzuarbeiten.

Bis vor ein paar Tagen habe ich noch darüber nachgedacht, welche Gedanken ich anlässlich der Veröffentlichung Eurer zweiten Anthologie mit Euch teilen könnte.

Mir fiel irgendwie nichts Gescheites ein. Das Wesentliche, was aus meiner Sicht zum Schreiben zu sagen ist, habe ich Euch bereits vor zwei Jahren angetragen. Und wie wir spätestens seit Goethe wissen, gilt auch heute noch: „Getretener Quark wird breit, nicht stark.“

Ich war also kurz davor, es bei einem „Super gemacht, liebe Schreibfedern! Ihr könnt stolz auf euch sein. Weiter so!“ zu belassen.

Ausgerechnet eine große, braune Bananenkiste wies mir die Richtung hin zu einer neuen Überlegung.

Diese Bananenkiste stand auf einem Flohmarkt. Einer von zahlreichen Flohmärkten in Berlin. Der große Karton war nicht allein. Er teilte die Gesellschaft mit zahlreichen Kisten und ausladenden Verkaufsständen.

Und alle hatten eins gemeinsam. Sie waren randvoll, ja geradezu überladen, mit Büchern. Dort fanden sich Werke aus den aktuellen Bestsellerlisten ebenso wie in Leder gebundene Werke, die vor mehr als 200 Jahren eine Buchbinderei verlassen hatten.

Stephen King neben Goethe, Hera Lind neben Strittmacher, Sachbücher über Medizin und Architektur lehnten sich an Memoiren von Menschen, deren Namen nicht mal Google findet. Nobelpreisliteratur begraben unter Schmonzetten.

Egal welches Buch ich in die Hand nahm, hier auf dem Flohmarkt war für kein Exemplar seine Bekanntheit und Auflagenhöhe noch von irgendeiner Bedeutung.

Sie waren ihrer ehemaligen Bücherregale beraubt. Ihre einstigen Eitelkeiten hatten es nicht bis in die Pappkartons geschafft.

Als eines unter vielen war jedes Exemplar nur noch, was letztendlich jedes Buch ist: Papier, das bedruckt und gebunden wird, bevor man es zum Verkauf anbietet.

„Jedes Buch 1 Euro“ war zu lesen. „5 zum Preis von 3“ an anderer Stelle.

In diesem Moment wurde mir klar, dass alle Bücher noch etwas anderes gemeinsam haben, außer dass auch sie im Alter ihren Glanz verlieren.

Lange bevor sie sich gemeinsam in einer Mehrgenerationen-Kiste wiederfinden, sind sie ursprünglich und zuallererst Geschöpfe eines Autors oder einer Autorin. So unterschiedlich diese auch sein mögen, jedes Buch erwächst aus einem eigenen, unverwechselbaren Samenkorn, der als Gedanke in einem Kopf keimt.

Der Urheber bringt ihn anschließend mittels Papiers zum Wachsen. Im besten Falle - längst nicht in jedem - erblüht am Ende das Gedankengewächs in Form eines Buches.

Beim Blick in die Kisten war ich bereit, jede Wette einzugehen, dass nicht ein einziger Autor oder Autorin beim Formulieren des ersten Satzes daran dachte, ob und wie groß der Erfolg des Werkes werden würde. Überhaupt musste das ja zunächst erstmal beendet werden.

Und ich bin bereit, eine weitere Wette einzugehen. Die Überlegung, wie viele bzw. wie wenige das Geschriebene einmal lesen würden, hätte niemanden davon abgehalten, aus seinem Kopf zu entlassen, was von dort nach Außen drängte.

Jeder Mensch ist für sich zugleich die erste Instanz, wenn es darum geht zu entscheiden, was für ihn selbst wichtig ist. Welche Bedeutung hätte kreatives Schaffen, wenn wir uns ständig nur an anderen messen würden? Wenn jeder Musiker den Versuch aufgäbe, eine Note zu spielen, nur weil Helene Fischer oder die Rolling Stones sie schon besser gesungen haben? Wenn kein Maler mehr zum Pinsel greifen würde, weil Rembrandt, Dalí oder Picasso bereits ganze Welten erschaffen haben?

Denn überall dort, wo sich ein Mensch künstlerisch ausdrückt, geht es zunächst nicht um den Rest der Welt – es geht um ihn selbst. Um die eine, unverwechselbare Weise, in der jemand die Dinge sieht, hört, fühlt.

Kreativität entsteht nicht im ständigen Vergleich, sondern vor allem im Erkennen des Eigenen.

Und vielleicht geht es genau deswegen in der Kunst auch um die Welt: Weil jeder, der sich ehrlich ausdrückt, etwas Allgemeingültiges berührt. Weil in der Tiefe des Persönlichen das Universelle wohnt.

Am Ende ist jede Skizze, jedes Lied, jede Zeile ein Versuch, für einen Moment sichtbar zu machen, was in uns allen verborgen liegt – nur eben in einer anderen Farbe, einer anderen Tonart, einem anderen Blickwinkel.

Es genügt ein weiterer Mensch, der etwas davon mit uns teilt oder verstehen kann, um uns das Gefühl von Zugehörigkeit zu geben.

Euren Texten merkt man an, dass sie erzählt werden wollten. Und ich bin sicher, dass sie Leser finden werden, die sich darin selbst wiederfinden und auch verstanden fühlen.

Im Jahr 2024 wurden in Deutschland 58.346 neue Buchtitel veröffentlicht. Wenn man Erst- und Neuauflagen zusammenzählt (also nicht nur „erste Veröffentlichungen“), wurden in dem Jahr in Deutschland 65.717 Titel als neu angeboten. Dazu zählen sowohl gedruckte wie digital erstellte Werke.

Die Zahlen für 2025 werden sich vermutlich eher nach oben als nach unten bewegen.

Mit „Jahreszeiten“ reiht sich ein weiteres Buch in die Phalanx der neuen Bücher dieses Jahres ein. Druckauflage 500 Stück. Selbst bei einer Quote von 100 Prozent verbreiteten Exemplaren, wird das für keine Bestsellerliste dieser Welt reichen.

Sollte uns das betrüblich stimmen?

Schauen wir nochmal in die Bananenkiste. Ich finde dort auch aktuelle Bestseller, eingeschweißt in Folie, vom Empfänger nie geöffnet, geschweige denn gelesen.

Und dann finde ich da 100 Jahre, 150 Jahre alte, abgegriffene, angegilbte, durch viele Hände gegangene Bücher. Die Autoren sind mir so fremd wie die Buchtitel. Sie haben ihre beste Zeit und in den meisten Fällen ihre Aktualität lange hinter sich gelassen. Oder vielleicht auch nicht?

Wie viele Regale haben sie inzwischen wohl bewohnt? Wie lange haben sie in Kisten zugebracht zwischen Schicksalsgleichen, bis sich eine Hand erbarmte, sie hervorzog und damit etwas entdeckte, das es für den Finder nirgendwo sonst noch zu entdecken gab.

Vor ein paar Tagen grub unser dreijähriger Enkelsohn im Sandkasten seiner KITA ein Überraschungsei aus. Es war bei einem Kinderfest dort wohl unter Tage geraten. Stolz präsentierte er seinen Fund, der von allen sofort als Schatz deklariert wurde. Tatsächlich fand sich in der Plastikummantelung ein Bonbon. Essbar. Mehr Glück geht nicht für einen Dreijährigen. Unvergesslich dieser Moment? Von wegen. Nicht nur im Leben eines Dreijährigen gilt: Nach dem Schatz ist vor dem Schatz.

Nur einen Tag später, war das Überraschungsei auch nur noch Schatz von gestern. Neuer Tag, neues Abenteuer, neues Glück.

Das Erlebnis aber, dieser kleine, große Glücksmoment, der das Kind zum Leuchten gebracht hat, ist nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Wie eine Sternschnuppe hat sein fröhliches Lachen uns für einen Moment mitgenommen in eine andere Welt – jenseits von allem, was sich in Worte fassen lässt, unbeschwert und voller Möglichkeiten.

Eurem Buch wünsche ich als erstes sehr viele Leser im Hier und Jetzt. Aber seit ein paar Tagen finde ich, dass es in der Zukunft auch einen würdigen Platz in einer Bananenkiste finden sollte. Auf Tuchfühlung mit den großen Literaten und Philosophen, bis ein Mensch danach greift, es für einen Euro – oder welche Währung dann auch immer gilt - mitnimmt.

Dass dieser gefundene Schatz den Finder für ein paar Momente alles vergessen lässt, was ihn oder sie ansonsten beschwert und eins werden lässt mit der unbekannten Autorin und dem unbekannten Autor und sich ein bisschen besser verstanden und weniger verloren fühlt.

Wer, frage ich Euch, braucht dann noch eine Bestsellerliste?

Vielen Dank für Eure Aufmerksamkeit und alles Gute und viel Erfolg mit Euren „Jahreszeiten – Geschichten aus dem Leben“.

 

rotundgrau.de danken Elke Renner, Maxi Rühlmann und Marion Schild für die Fotos zu diesem Beitrag.

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Kommentare

Kommentar von Viola |

Herzlichen Dank für die große Verbundenheit, das Vertrauen in die Schreibenden und den optimistischen unverklärten Blick auf die Realität.
Wer weiß, vielleicht gibt es noch einen Nachschlag. "Alle Dinge sind drei". Es wäre noch soviel (als geschriebenes Wort)
zu erzählen. Ein autobiographisches Thema bleibt der emotionale Umbruch 1989/1990 für alle Schreibfedern.
Bis heute scheint es nur schwarz oder weiß , gut oder böse, alt oder neu zu geben. Immer noch die Entscheidung für oder wider. Wer vermittelt?
Wir?

Freundliche Grüße von der Müritz

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