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Völlig irrelevant

von (Kommentare: 3)

Seit Anfang Juni dürfen wir wieder raus. Durften wir eigentlich auch schon vorher, aber nur so ein bisschen, weil - Lockdown. Nun dürfen wir rausser. Aus Sorge vor einer Dauerwelle (sorry, liebe Frisöre und Frisörinnen) werden wir aber weiterhin an der moralischen und ordnungspolitischen Hundeleine geführt. Auch wenn sie großzügig verlängert wurde.

Jetzt dürfen wir nicht mehr nur zur Proviantierung oder wegen Notarztbesuch die eigenen vier Wände verlassen, sondern auch zum ausgedehnten Gassi-Gehen, zum Ballspielen auf die Wiese oder einfach nur so zum U-Bahn-Fahren. Danke, liebe Virologen! Danke, liebe Politiker! Danke! Danke!

Sogar Fernreisen von einem Bundesland ins andere sind wieder möglich - für alle, die den Lagerkoller mit 10 anderen in einem gemeinsamen Strandkorb an der Ostsee verarbeiten wollen. Wem das zu mühselig ist, der demonstriert untergehakt (1,5 Zentimeter Abstand - oder waren es Meter?) vorm Brandenburger Tor oder rudert mit tausenden Spaßvögeln in einer Gummiboot-Armada über die Spree, vorbei an Klinikbauten und Krankenhäusern und macht sich dabei über das Personal und die Patienten lustig.

Kein Tier auf dem Planeten kann so bescheuert sein wie der Mensch. Vorausgesetzt, die zugedröhnten Wassersportfreunde in Berlin waren nicht selbst von Corona oder einem Hirn-Virus befallen. Dann könnten wir zumindest ein bisschen auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren. Allerdings erhärtet sich die Vermutung, dass es sich um ganz normale Idiotie handelte. Die gibt’s zu jeder Zeit und überall. Sie bleibt als Thema meistens so lange Gesprächsstoff, bis das nächste Kopfschütteln auf die Titelseiten der Medien gelangt.

Aktuell sind es fleischverarbeitende Betriebe, die durch eigenes Versagen Zutun dafür sorgen, dass wir wieder was Neues lernen. Wie hätten wir auch sonst erfahren können, dass in einer einzigen Verwurstungs-Firma pro Woche mehr Schweine geschlachtet werden als Autos bei VW vom Band rollen – in guten Zeiten.

Warum traut sich eigentlich niemand, diese Fließbandarbeit mit dem Prädikat „systemrelevant“ und die Leiharbeiter mit ihren Fleischermessern als „unsere Helden“ zu adeln? Jeden Tag Schnitzel auf dem Teller ist hierzulande doch wohl mindestens so staatserhaltend wie eine richtig bediente Beatmungsmaschine bei Corona-Komplikationen. Oder etwa nicht? Immerhin ermöglichen es die gesichtslosen Damen und Herren aus osteuropäischen Ländern, dass uns das Kilo Schweinefleisch weniger kostet als das Trinkgeld nach einem Restaurantbesuch. Stattdessen werden sie jetzt von allen Seiten runtergemacht. Nicht nur von Vegetariern und Veganern. Die brauchten dazu noch nie ansteckende Krankheiten als Vorwand.

Ob Kirchen, Familienfeiern, einzelne Wohnblöcke oder Schlachthöfe, gemeinsam zeigen uns Stätten freiwilliger oder erzwungener Menschenansammlungen, wie schnell sich das Virus verbreiten kann, wenn man es lässt. Ein Steppenbrand ist nichts dagegen.

Das müssten, bei allen Differenzen, inzwischen eigentlich alle zugeben. Egal ob Wissende, Zweifelnde, Leugnende, Gleichgültige oder Experten aller Couleur. Immerhin haben wir begriffen, dass, wenn es oben ins Dach reinregnet, wir nicht gleich das ganze Haus abreißen müssen. Oft reicht es, das Loch zu stopfen und die obere Etage zu räumen, bis alles wieder trocken ist.

Es hilft durchaus, auf der Hut zu bleiben - und bis auf weiteres Mund und Nase zu bedecken, Abstand zu halten und sich lieber einmal mehr die Hände zu waschen.

Nachdem die erste Panikmache Welle vorüber ist, sollten wir zusehen, dass wir gesund und uninfiziert bleiben. Vielleicht bietet sich uns Normalsterblichen schon bald die Chance, es zu Höherem zu bringen und gar selbst „Held“ von irgendwas zu werden.

Unworte des Jahres

Hatte ich schon erwähnt, dass „systemrelevant“ mein absolutes Lieblingswort geworden ist? Es hat den Vorgänger „Experte“ kürzlich auf den zweiten Platz meiner persönlichen Bestenliste der semantischen Volksverarschung verwiesen, kurz vor die drittplatzierten „Helden“.

Mal ehrlich: wer von uns will denn nicht selber systemrelevant sein? Haben wir bis vor kurzem nicht sogar geglaubt, wir seien es? Da arbeitet man sich sein Leben lang krumm und dumm, zahlt Steuern bis zum geht nicht mehr, von denen ununterbrochen Schulen und Kindergärten finanziert, Straßen gebaut und das Gesundheitssystem aufgestockt werden. Und plötzlich bricht eine Krankheit aus und Du kriegst Hausarrest, weil Du im falschen Beruf unterwegs bist. Auf einmal findest Du Dich zwischen Leuten wieder, die vom Balkon herunter ihre eigene Überflüssigkeit besingen. Währenddessen stehen die Beklatschten bei der Arbeit in der Viruswolke und wünschen sich weniger Huldigung vom Spielfeldrand und stattdessen auch eine Pole-Position im Supermarkt. Während sie selbst bei ihrer Arbeit dem Virus tief in die Tentakeln blicken, hamstern nämlich die vom System nicht benötigten Zuhause-Bleiber und „Helden“-Verehrer die Regale leer.

Wer sich derzeit an den Wochenenden in Berlin bewegt, kommt zu ganz neuen Erkenntnissen, was „Systemrelevanz“ betrifft. Wo bis zum März das Leben blühte, man an manchen Tagen kein Bein vors andere bekam, funktioniert die Stadt jetzt prima als leblose Hintergrundkulisse. Abseits der Corona-Demos und Spontan-Partys weht ein scharfer Wind durch fast menschenleere Straßen. Niemand spricht Dich mehr an „Hey, haste mal ´nen Euro?“ Stattdessen heißt es „Wollen Sie nicht ´ne Eintrittskarte kaufen - fürs Museum?“

Nirgendwo reicht die einheimische Bevölkerung aus, um ihr lokales Angebot an Kneipen, Biergärten oder Restaurants am Leben zu erhalten. Noch bis Anfang Juni wurden Ortsfremde vielerorts wie Aussätzige behandelt, wenn man sie überhaupt in die eigene keimfreie Nähe ließ. Dieselben Ab- und Ausgrenzer von damals knien nun jeden Morgen nieder und beten, auf dass der nächste - der neue - systemrelevante Held aus der aufgehenden Sonne auf sie zureiten möge – ehemals auch als „Tourist“ bekannt. Einst mit der Heuschreckenplage gleichgesetzt, wird er nach Lockdown-bedingter Dürre nun herbeigesehnt, um sein Urlaubsgeld über ausgedörrtes Land und brachliegende Hotels regnen zu lassen.

So schnell kann es gehen: Gestern noch Arsch mit Ohren – heute schon wieder König Kunde. Vorausgesetzt, man hat einen Job und ein Einkommen, das mehr als die bloße Grundsicherung ermöglicht.

Wenn mir in den letzten Wochen irgendwas wirklich Angst gemacht hat, dann war das nicht die Krankheit. Es war, mitzuerleben, wie einfach sich Menschenmassen bewegen lassen. Wie schnell sie ihre Meinungen ändern, anpassen und wieder ändern. Grad so, wie man seine Socken wechselt.

Erst reden, dann denken. Das scheint sich als kommunikative Grundmaxime nun auch in unserer Gesellschaft zu etablieren. Erstmal Fakten schaffen – und später über die Konsequenzen nachdenken. "Den Ast absägen, auf dem man sitzt", sagt das irgendwem noch was?

Es gruselt mich, wenn sich Leute, die bisher niemand kannte und über deren Verdienste am Gemeinwesen mitunter wenig bekannt ist, sich als Erfinder der Wahrheit inszenieren. Es ist erstaunlich, dass es ihnen gelingt, wie auf Zuruf neue Glaubensbekenntnisse zu verbreiten, die wiederum verblüffend schnell als neue Wahrheiten veröffentlicht werden. „Wahrheiten“, die man früher nicht mal in volltrunkenem Zustand geschluckt hätte.

Mein Bedarf an Querdenkern, Heilsbringern oder Robin Hoods der Freigeister ist jedenfalls für lange Zeit gedeckt. Und dass wir uns hier richtig verstehen: nicht alle stammen aus den Verschwörungsecken, viele der Lautsprecher stehen mitten im Mainstream. Was sie verbindet: Sie alle waren in den letzten Monaten unterwegs wie Geisterfahrer mit 200 Sachen im dichten Nebel.

Du hast nicht Medizin studiert, bist nicht in der Pflege ausgebildet und Politiker bist Du auch nicht? Du hast keinen eigenen Youtube-Kanal und verlegst keine Zeitung? Willkommen im Club der Systemirrelevanten.

Du bist nicht allein.

Neue Normalität

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Kommentare

Kommentar von Ines |

Wie treffend ist alles beschrieben! Wir möchten gerne Clubmitglieder werden. Die beiden Systemirrelevanten aus Bonn grüßen euch!

Kommentar von Martina |

Klasse wie immer!!!

Kommentar von Klaus Heller |

Die Schönheit der Krise liegt in der Linse des Fotografen!

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