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Straße der Verführung

von (Kommentare: 4)

Da wir nicht zum ersten Mal an Bord eines dieser Schiffe sind, wissen wir genau, was auf uns zukommt. Ich sage nur: Die Essenszeiten heißen hier „Genusszeiten“.

Deshalb nehme ich mir im Stillen vor, das Frühstück zu genießen, das Mittagessen auszulassen und mich wieder auf das Abendessen zu freuen. Und zwischendurch einige Sporteinheiten mitzumachen. Und an Deck zu laufen. Jede Runde 135 Meter.

An Tag 1 mache ich bezüglich des Mittagessens eine Ausnahme. Ich nehme nur einen Salat, bestreue ihn großzügig mit Pinienkernen und verfeinere ihn mit einem sehr köstlichen Dressing. Und sehr wenigen Croutons.

An Tag 2 schlage ich dem Grauen vor, mittags grundsätzlich nur Salat zu essen, wenn wir schon auf die Mittagsmahlzeit nicht verzichten wollen. Höchstens ein schmales Stückchen von dem exquisiten Parmaschinken lege ich mir im Vorbeigehen auf den Salat. Der Graue hat ein Stückchen gegrillten Fisch auf dem Teller. Salat ist nicht so seins. Sagt er, und schielt in Richtung Grill.

An Tag 3 verzichten wir auf den Verzicht des Mittagessens. Das macht doch keinen Sinn. Wenn wir schon mal hier sind. Wir gehen mit geschlossenen Augen am Nachspeisenbüfett vorbei.

Bis Tag 4. Da werde ich von einem Brownie angegriffen, der nicht von dieser Welt scheint. Vor 13.30 Uhr habe ich zwei davon verdrückt und verdrehe die Augen. Wir erholen uns kurz zur Mittagsruhe auf der Kabine, der Graue liest mir aus dem Tagesprogramm die Eissorte des Tages vor: Caipirinia. Als Softeis. Gibt’s ab 15.00 Uhr am Pooldeck auf Etage 8. Ich sehe auf die Uhr und nehme die Treppe nach oben. Die Softeismaschine ist so eingestellt, dass die Portion wie eine hinterhältige Schlange in die Schale gleitet. Lautlos und absolut giftig. Man muss einen Kaffee dazu nehmen. Dazu wiederum muss man zwischen Softeis- und Kaffee-Maschine am Kühlbuffet für die Nachmittagsküchlein vorbei, die hinter den Glasscheiben meinen Namen rufen. Ich habe nur ein Problem: Ich kann nicht Kaffee, Küchlein und Softeisschale auf einmal tragen. Ich muss zweimal gehen. Der junge Kellner lächelt wissend, sagt „Madame“ zu mir und trägt mir alles auf einem Tablett zum Liegestuhl. Minuten später kommt er allen Ernstes mit einer halben Waffel mit Sahne. Er schaut so lieb, dass ich ihm ein Tellerchen abnehme. Aus reinem Mitleid, damit er nicht so schwer tragen muss.

An Tag 5 haben wir durch einen Zufall das Spätaufsteher-Frühstück entdeckt. Ebenfalls am Pooldeck auf Etage 8. Das ist wohl für die, die vom Frühstück zu spät aufgestanden sind. Dort also finde ich die warmen Franzbrötchen mit Schokofüllung, die ich beim Frühstück auf dem Lido-Deck nie schaffe. Eine Stunde nach dem Frühstück habe ich die Zange in der Hand und angle mir so ein Schokoteil vom Tablett.

An Tag 6 hält der Graue beim Abendessen einen Kurzvortrag über seine neuen Lieblingscracker, die er bescheiden auf seinem Teller stapelt. Er lässt ein paar davon in seiner Hosentasche verschwinden und schließt sie in der Kabine in den Safe, um als Notfall-Ration gegen den „kleinen Hunger“ vor dem Einschlafen zu dienen. (In Wirklichkeit hat er Angst, dass das Zimmermädchen sie irgendwo findet und entsorgt. Was furchtbar wäre. Denn sie sind absolut köstlich. Sagt der Graue.)

Tag 7: Wir schauen Fotos des Tagesausfluges an. Der Graue sagt: „Du bekommst langsam ein rundes Gesicht.“

Tag 8: Ich laufe 10 Runde auf dem Oberdeck und mache einen Bogen um die Eismaschine. Svetlana, die Fachfrau an der Eismaschine, bringt mir eine kleine Portion an den Arbeitsplatz, an dem ich gerade versuche, diesen Text niederzuschreiben. Ihr Kollege steht mit dem Waffeltablett hinter ihr. Auf der Waffel türmt sich ein Klecks Sahne.

Tag 9: Beim Abendessen lasse ich alle Bedenken fallen. Ein Gebilde namens „Kokostürmchen“ verschwindet von allein vom Teller. Keine Ahnung, wie die Krümel an meinen Mund kommen.

Tag 10: Ein Seerosenblatt auf dem Amazonas kann ein Gewicht von bis zu 60 Kilo tragen. Vor der Reise hätte ich mich draufstellen können. Als Nachspeise beim Abendessen gibt es kleine Baumkuchenkreationen mit filigranen Schokoladengittern.

Tag 11: Mit Sicherheit würde das Seerosenblatt mich nicht mehr tragen. Meine Tropenhose spannt. Am Eisstand gibt es „Schoko-Banane“. Der Hebel, mit dem man den Eisfluss stoppen kann, klemmt. Die Portion nimmt die Konturen eines Berges an. Den ich besteigen muss.

Tag 12: Beim Frühstück gibt es Pancakes mit Blaubeeren. Zuhause habe ich immer nur eine Scheibe Brot zum Frühstück geschafft. Hier schaffe ich Brot und Pancakes. Mit Blaubeeren. Und ein Eis. Mein Magen muss eine Erweiterung durchgemacht haben.

Zuhause werde ich mit den täglichen Laufeinheiten wieder von vorn beginnen. Die paar Tage schaffe ich noch. Svetlana winkt von der Eismaschine. Ich winke zurück und nehme mir schon mal ein Löffelchen.

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Kommentare

Kommentar von Dallo |

So geht es mir jeden Tag. Mich trägt niemand und nichts schon lange nicht mehr....

Kommentar von Roya Ahmadi |

Das klingt wirklich nach sehr großer Qual……:-)

Kommentar von Die Kleene |

Ihr habt das Paradies entdeckt.

Kommentar von Dieter |

Großartig beschrieben, habe mich beömmelt vor Lachen.

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