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Stadt Land Fluss

von (Kommentare: 2)

Links unten auf der Europakarte liegt Portugal. Dort findet sich auch die am weitesten westlich gelegene Hauptstadt Europas: Lissabon. Die Rote will unbedingt dahin. Ihr einziger Kontakt mit der Stadt am Wasser bestand bislang in einer hektischen Zwischenlandung im November 2021. Da hatte sie allerdings nur 20 Minuten Zeit, um im Laufschritt gerade mal das Flair des internationalen Flughafenterminals einzusaugen. Zu wenig, um über Lissabon mitreden zu können.

Diese unschöne Erinnerung und der seit Jahren anhaltende Hype um die Stadt als cooles Reiseziel beförderten Portugals Hauptstadt fortan auf ihre „Will-ich-auch-Liste“. Das Familienoberhaupt war da nicht ganz so euphorisch. Ihm graut seit längerem vor Orten, die mehr Instagram-Posts und YouTube-Kanäle haben als Einwohner. International litten die meisten Großstädte bereits unter einer Pandemie namens „Overtourism“, bevor Corona seine Weltreise antrat.

Hinzu kommt, dass Städtereisen noch nie etwas mit Urlaub im Sinne von Erholung zu tun hatten. Egal wohin die Reise geht, man rennt sich in viel zu kurzer Zeit die Hacken ab, isst Sachen, deren Namen man nicht aussprechen kann, und weiß vor lauter Reizüberflutung nicht, wohin man zuerst schauen soll. Permanent fangen die Augen mehr ein, als das Gehirn verarbeiten kann. Währenddessen beschäftigt den Hinterkopf die ständige Anspannung, nicht alles sehen und nicht alles erleben zu können, was das Reiseziel hergibt.

Immerhin ist zunehmende Gelassenheit ein Segen, den das Alter mit sich bringt. Wer mit 60 nicht begriffen hat, dass weniger fast immer mehr ist, wird es auch in der Zukunft schwer haben. Und so gehen die Rote und der Graue ihren Ausflug nach Lissabon entspannt an. Quasi voll gechillt.

Wir geben uns total modern und studieren vorab nicht mal einen Reiseführer. Es gibt ja Mediatheken und Internet. Wir ziehen uns drei Beiträge über Kurzreisen nach Lissabon rein. Fazit: Unterschiedlich waren lediglich die jeweiligen Moderatoren bezüglich Alter, Geschlecht und Frisur. Deren aufgeregtes Geplapper und die präsentierten Bilder von der Stadt hingegen waren schablonenartig gleich. Ebenso wie ihre „Einsichten“, „Tipps“ und „Geheimnisse“ von Lissabon. Nach zwei Stunden kommt es uns vor, als wären wir schon hundertmal dort gewesen. Der Familienvorstand schlägt vor, zu Hause zu bleiben. Die Familienchefin stimmt dagegen: Flugtickets und Unterkunft sind längst gebucht, also reisen wir.

Auch diesmal überzeugt uns die portugiesische Airline TAP mit ihrer (wiederholten) mehrstündigen Verspätung nicht. Wir erreichen Lissabon im Dunkeln. Fahren durch Regen und dichten Stadtverkehr zu unserem Quartier in der Altstadt. Später erreichen wir nach einer mittleren Bergwanderung ein portugiesisches Restaurant in einer Seitenstraße. Dort erleben wir das erste Highlight unseres Ausfluges: ein einfaches, überraschend gutes und preiswertes Abendessen. Eines können Fernsehen und Internet dann doch noch nicht: die Zuschauer schmecken und riechen lassen. Und frösteln auch nicht. Es ist frisch, zu dieser Jahreszeit sogar in Lissabon.

Am nächsten Tag folgen wir dem Rat unserer Tochter und besuchen die LX Factory. Über eine Stunde laufen wir parallel zum Fluss Tejo und erleben, wie sich Lissabon abseits der Altstadt entfaltet. Erster Eindruck: sehr viele Baustellen. Sehr viel Sanierungsbedarf. Viel Ramponiertes. Dazwischen ab und zu was Schönes. Meistens Altes, das tapfer dem Verfall trotzt.

Am Ziel unseres Ausfluges hat man die Not zur Tugend umfunktioniert. 2012 wurde hier ein 150 Jahre altes Fabrikgelände unter den Zubringern der Brücke „Ponte de 25 Abril“ reaktiviert und auf moderne, kreative Art wiederbelebt. Während über uns ohne Unterlass Autos und Flugzeuge hinwegdüsen, durchstreifen wir eine farbenfrohe Betonoase. Start ups sowie Agenturen und Studios aus der Werbe- Medien und Mode-Branche haben sich hier angesiedelt, Bars, Cafés und Restaurants eröffneten, Künstler kamen und mit ihnen auch die Streetart.

Kurzweilig ist es allemal. Allerdings mögen wir uns nicht vorstellen, was hier in der Hauptsaison los ist. Zumal es so scheint, als seien bereits jetzt die portugiesischen gegenüber den ausländischen Besuchern deutlich in der Unterzahl.

Der erste volle Tag in Lissabon endet mit einem langen Fußmarsch zurück ins Quartier. Das zweite - portugiesische - Abendessen überzeugt uns erneut auf ganzer Linie.

LX Factory - Kunst-Kultur-Kulinarik

Seit unserer Ankunft in Lissabon stehen wir unter Beobachtung. Auf Schritt und Tritt verfolgt uns ein versteinerter Blick. Von der gegenüberliegenden Seite des Tejo erhebt sich Cristo Rei über der Gemeinde von Almada und blickt ein bisschen streng auf das Treiben in der großen Stadt am anderen Ufer.

Die Statue steht auf einem 75 m hohen Sockel, der sich 113 m über dem Meeresspiegel befindet. Das Monument selbst ist mit 28 Metern Höhe die siebthöchste Christusstatue der Welt. Sie ist eines der höchsten Bauwerke Portugals. Wegen ihrer Höhe ist die Statue einer der besten Aussichtspunkte auf Lissabon. Was Cristo Rei von dort aus sieht, wollen auch wir sehen.

Wir nehmen die Fähre. Die Fahrt ist preiswert, nur leider etwas kurz. Vom Anleger aus wandern wir über eine Stunde lang bergauf. Belohnt werden wir mit einer spektakulären Aussicht am Fuße der Statue. Nun sehen auch wir, was Big Brother hinter uns sieht. Unser Blick reicht vom Atlantik bis weit ins Landesinnere. Die Altstadt von Lissabon strahlt wie auf einem Präsentierteller aus Licht.

Wie erst muss der Blick von oben sein? Eine halbe Stunde später wissen wir es. Es wird das einzige Mal während unserer Reise sein, dass wir uns für irgendetwas anstellen. Und wir bereuen es nicht. Der spektakuläre Ausblick von der Aussichtsplattform ist noch spektakulärer, allein wegen des vollständigen Rundumblicks.

Für den Rückweg wählen wir einen anderen Weg und gelangen hinab ans Flussufer. Hier künden verfallende Gebäude und Lagerhallen von ehemaliger maritimer Betriebsamkeit. Im Gegensatz zur LX Factory ist die marode Bausubstanz so gut wie gar nicht redomestiziert worden und bietet ideale Motive für einen Zombie-Film.

Doch selbst hier finden sich vereinzelt Unternehmer, die auf Geschäfte hoffen. Bemerkenswert ist vor allem das Restaurante Ponto Final mit Sitzplätzen für Schwindelfreie direkt an der Wasserkante. In Deutschland hätte man noch nicht bis drei gezählt und irgendeine Ordnungsbehörde würde den Betrieb sofort einstellen. Ohne bombenfeste Zäune und meterhohe Balustraden ginge bei uns gar nichts. Die Portugiesen sind da offensichtlich pragmatischer. Wer hier vom Tisch ins Wasser fällt, hat zumindest gut gegessen und getrunken. Um genau zu sein: sehr gut. Zum ersten Mal in seinem langen Leben erwirbt der Chronist das T-Shirt eines Restaurants und läuft seitdem Reklame für die Gaststätte.

Nach zwei von vier Tagen ist die Rote entzückt von Lissabon und bei ihrem Reisebegleiter beginnt sich die anfängliche Anspannung zu lösen. Die Stadt mit ihrem morbiden Charme lullt auch ihn ein. Zudem ist November offensichtlich nicht die Hauptreisezeit für Lissabon-Besucher. Trotzdem ist das Wetter kooperativ. Noch reicht es nicht, um hier leben zu wollen. Aber wir bleiben ja noch. Mal schauen, was die zweite Halbzeit bringt.

 

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Kommentare

Kommentar von Klaus Heller |

Toller Bericht + umwerfende Bilder! - Viel Spaß noch in Portugal und herzliche Grüße aus Taipeh / Taiwan

Kommentar von Peter |

Danke, du Weltenbummler.
Urlaub oder ausgewandert?

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