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Schlaflos in Chiang Rai

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Chiang Rai, so hat man mir erzählt, sei ein kleines beschauliches Nest. Da will ich also sofort hin. Beschaulich brauche ich dringend. Alles ist beschaulich im Gegensatz zu Berlin - bis ich Bangkok erlebte.

Wir fliegen nach Chiang Rai, und als ich den übergroßen weißen Buddha von meinem Flugzeugfenster aus strahlend in der Abenddämmerung über der Stadt sehe, überkommt mich eine wunderbare Ruhe. Wir nehmen ein Taxi zum Hotel, das ein wenig außerhalb liegt, beziehen unser schönes großes Balkonzimmer mit Blick auf den Fluss und den Garten und freuen uns über die herrliche Ruhe. Die steinernen Elefanten am Pool plätschern leise ihre kleinen Wasserfontänen hinab. In den Bäumen singen exotische Vögel.

Nur einen Katzensprung entfernt ist der „Blaue Tempel“, zu dem wir spazieren. Da es schon Abend ist, herrscht eine mystische Stimmung, und wir ziehen unsere Schuhe aus, um uns das Innere des Tempels anzuschauen. Während ich mir die wunderschönen Wand- und Deckenbemalungen anschaue, bin ich unangenehm berührt von dem Gebaren einiger junger Frauen, die sich vor der Statue von einem Selfie zum nächsten posieren, auf ihre Fotos gucken, sich noch nicht toll genug finden, sich nochmal hinhocken, Gesten machen, die sie wahrscheinlich genauso wenig verstehen wie ich, aber cool finden, nochmal aufs Handy schauen, nochmal knipsen, die Lippen zum Kussmund formen, Herzen mit den Händen machen... Ich kann nicht wegschauen, und bin peinlich berührt. Sie haben keinen einzigen Blick für die Wände, für die wunderschöne Deckenbemalung, für das Glitzern des Goldes, für die Schattenspiele und das Licht des Mondes. Sie sehen auf ihrem Handy nur eines: Sich selbst. Auf Insta natürlich.

Unter dem Licht des Supermondes schlendern wir zum Hotel zurück.

In der Nacht werde ich von Geschrei wach. Ich drehe mich missmutig hin und her und frage mich, was da los ist. Es hört nicht auf. Frauen schreien, aufgeregte Stimmen hallen draußen durch die Dunkelheit. Der Graue schnarcht leise vor sich hin, geradezu geräuschlos für seine Verhältnisse. Ich versuche wieder einzuschlafen, aber es ist nicht möglich. Die lärmenden Strolche draußen sind am Feiern. Langsam werde ich unruhig. Das klingt nicht wie Kneipengänger auf dem Heimweg, die kenne ich von zuhause, die verschwinden irgendwann. Weit gefehlt hier. Das Gekreische hört nicht auf und entfernt sich nicht. Was zur Hölle ist da los?

Ich schaue auf meine Uhr und sehe: Es ist 3.00 Uhr mitten in der Nacht. Also quasi auch Schlafenszeit in der unbekannten Dunkelheit. Draußen wird geklatscht und gejubelt. Ich stehe auf und gehe auf den Balkon. Die Elefanten am Poolrand schlafen. Die Vögel schlafen. Der Graue schläft. Nur drüben, auf der anderen Seite des Flusses, ist Alarm und Gekreische, Gelächter und Geschrei. Vereinzelte Lichter. Geschrei. Lautes Geschrei. Werden da Leute ermordet?!

Und dann höre ich das schnelle Plopp, plopp, und denke, das kann doch nicht wahr sein. Plopp, plopp, plopp, Jubel! Das spielen Leute Tennis. Um 3.00 Uhr morgens. Und machen einen Lärm wie beim Endspiel in Wimbledon. Ich kann es nicht fassen. Wo bin ich hier gelandet?

Ich lege mich wieder hin und hoffe, die werden irgendwann müde oder müssen nach Hause. Aber weit gefehlt. Die lautstarke sportliche Betätigung samt Siegesschreie hält an bis zum Morgengrauen. Verlängerung inclusive. Und ich bin live dabei.

Irgendwann wacht der Graue auf, und als er mich fragt, wie ich geschlafen habe, bin ich kurz davor, in hysterisches Geschrei auszubrechen. Die Elefanten am Pool fangen an zu plätschern. Im Restaurant klappert das Frühstücksgeschirr. Drüben in Wimbledon ist plötzlich Ruhe.

Der Graue guckt ratlos, als ich ihm berichte. Und tröstet mich mit der Bemerkung, dass heute Loy Krathong gefeiert wird, das thailändische Lichterfest. Ziemlich hoch im Feiertagskalender. So ähnlich wie bei uns Silvester. Hoffentlich nicht so laut, denke ich mit letzter Kraft.

Gegen Schlafentzug hilft nur göttlicher Beistand. Wir fahren mit einem Tuk-Tuk zum großen weißen Buddha aus der Stadt heraus. Die fast 70 Meter hohe Statue ist, so lesen wir mit Erstaunen, die Darstellung der Göttin der Barmherzigkeit, Guanyin. Also gar kein Buddha, sondern eine Frau. Das erklärt ihr schönes und göttliches Gesicht. Wohlwollend und warmherzig schaut sie uns entgegen und strahlt Ruhe und Erhabenheit aus.

Wir ersteigen die Stufen zum Plateau und drehen uns um für die großartige Aussicht über die Umgebung. Und es geht noch höher hinaus. Mit einem Fahrstuhl kann man im Innern der Göttin bis ganz nach oben fahren. Dort sieht es aus wie aus Zuckerguss mit glitzernden Swarovski-Steinen. Und man kann Chiang Rai nun mit den Augen der schönen Göttin sehen, fast aus den Wolken.

Weiter geht es mit dem Tuk-Tuk zum weißen Tempel, der – genauso wie die große weiße Göttin – gar keinen historischen Hintergrund hat, sondern erst vor einigen Jahren erbaut wurde. Ein Kunstprojekt sozusagen. Die lange Schlange, die sich vor dem Eingang und ums Gebäude herum windet, lässt uns jedoch entscheiden, keinen Einlass zu begehren. Das überlassen wir den ganzen Instagramern, die sich in allen möglichen peinlichen Positionen selbst ablichten (Lieblingsszene: Junge Mädchen, die ihre grell-manikürten Hände auf den Zuckerbäcker-Zaun legen, direkt neben dem großen Schild „Don´t touch!“), und spazieren um den Tempel herum.

Mich erinnert das Bauwerk des thailändischen Künstlers Chalermchai Kositpipat, der diesen Tempel übrigens selbst und mit Hilfe von einigen Spenden finanziert hat, an die Märchenfilme von Väterchen Frost. Es würde mich nicht wundern, wenn der mit seinem Schlitten durch den schneeweißen Garten sausen würde. Für die Provinz Chiang Rai ist es ein großartiges Geschenk, denn die vielen Touristen kommen aus aller Welt, um das sehr spezielle Kunstwerk zu bestaunen.

Am Abend entdecken wir ein wunderbares kleines Restaurant in der Nähe unseres Hotels. Am „Loy Krathong“, dem thailändischen Lichterfest, sitzen wir am Ufer, trinken ein eiskaltes Bier und gucken auf die ab und zu vorbeischwimmenden Blumengebinde mit Kerzen und die wenigen Laternen, die in den Himmel steigen. Am Ende des Tages lassen wir unser eigenes Gebinde zu Wasser und geben ihm unsere bescheidenen Wünsche mit. Sanft gleitet es den Fluss hinunter in die Dunkelheit. Während von der anderen Seite des Flusses im Public Park sich unhörbar die Karaoke-Sänger warm machen, die mich auch in der kommenden Nacht wacht halten werden. Ich bin schlaflos in Chiang Rai.

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