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Satisfaction!

von (Kommentare: 2)

Als sie 1962 erstmals auf der Bühne standen, war ich dreieinhalb Jahre alt. Bis dahin war außer den lieblichen Gesängen meiner Mama nichts von musikalischer Bedeutung in meine kleinen Öhrchen gelangt. Wie bei den meisten Menschen entwickelte sich auch mein musikalisches Bewusstsein mit dem Beginn der Pubertät.

Es war in einer Samstagabend-„Disko“ für Heranwachsende, in der um 21 Uhr die Lichter angeknipst und alle Teilnehmer von ihren Eltern wieder eingesammelt wurden. Ich selbst muss 13 oder 14 Jahre alt gewesen sein. Die Musik in dem dunklen Partykeller des Gemeindezentrums war laut und bestand aus dem, was man irgendwie aus dem Radio kannte. Ich kann mich an keinen einzigen der gespielten Titel dieses Abends mehr erinnern. Bis auf einen: „Satisfaction“.

Ich hatte keine Ahnung, wer die Interpreten waren. Doch die Power, der Rhythmus und der Refrain, den man selbst mit rudimentären Schulenglischkenntnissen hinbekam, drang durch meine Ohren direkt und unauslöschlich ins Stammhirn.

Ich weiss nicht mehr, was mir damals - benommen und verwirrt von dieser Art von Musik - durch den Kopf ging. Ganz sicher nicht, dass ich genau diesen Titel 50 Jahre später zum wiederholten und ungezählten Male hören würde: am 5. Juni 2022 im Münchner Olympiastadion, vorgetragen von den Rolling Stones höchstpersönlich.

"Start me up"

2022

Sehr geehrter Herr Schäfer,
zu Ihrem Event haben wir wichtige Neuigkeiten:

"HEUTIGES KONZERT - THE ROLLING STONES – OLYMPIASTADION: EINLASS BEGINNT EINE STUNDE SPÄTER UM 18 UHR

Aufgrund der angekündigten Schlechtwetterlage mit Starkregenfällen, Blitzen und Sturmböen heute Nachmittag verschiebt sich der Einlass des Konzerts der Rolling Stones im Münchner Olympiastadion um eine Stunde von 17 auf 18 Uhr. Diese Maßnahme dient dem Schutz der Zuschauer*innen und aller Produktionsbeteiligten. Wir bitten alle Zuschauer*innen, ihre Kleidung an die Wettersituation anzupassen und an Regenjacken, Regenponchos o.ä. zu denken. ACHTUNG: Regenschirme sind im Stadion nicht erlaubt!

Die Mail ist von 15:00 Uhr. Fünf Stunden vor Veranstaltungsbeginn abgeschickt. Gegen 17.00 Uhr lese ich sie zum ersten Mal. Die letzten beiden Sätze lese ich dreimal. Regenjacken, Regenponchos…. Keine Regenschirme?!

Mein alter Freund Lars und ich sehen uns ratlos an. Wir haben in unserem Leben gemeinsam einige Konzerte zusammen besucht, geregnet hatte es bei keinem. Inzwischen verkündet auch die Wetter-App auf dem Handy: Starkregen. Ab 19.00 Uhr durchgehend bis zum nächsten Mittag. Plötzlich scheint uns, als wollten alle Menschen in München zum Stones Konzert. Und alle tragen einen Regenschutz. Das wollen wir auch. Unbedingt!

Es ist Sonntag. Pfingstsonntag. Im katholischen Bayern! Außer Kirchen und Biergärten ist hier alles dicht. Alles!

Wir sehen uns stumm an. Wie überstehen zwei Männer - im besten Alter zwar - aber eben nicht mehr 20, gut vier Stunden Dauerregen, in Kleidung, die innerhalb von zwei Minuten bis auf die letzte Faser durchnässt sein wird? Ab wann werden sich die Sohlen von unseren Schuhen lösen, wenn sie ununterbrochen im Wasser stehen?

Sind die Rolling Stones es wert, für sie bzw. ihre Musik an Lungenentzündung zu sterben? Ein teurer Tod, kommt mir in den Sinn und ich muss einmal mehr an den schwindelerregenden Ticketpreis denken.

Haben wir unseren Frauen noch gesagt, dass wir sie lieben? Letzte wichtige Telefonate geführt? Was bleibt unerledigt? Es gibt schlimmeres, als bei einem Stones-Konzert hingerafft zu werden. Andererseits haben wir noch ein paar Pläne für unser Leben. Der Renteneintritt ist in Sicht.

Unsere letzte Hoffnung ruht auf dem Hauptbahnhof. Allerdings nur so lange, bis wir uns durch die Zillionen Besucher gequetscht haben, die vor dem einzigen geöffneten Supermarkt Schlange stehen und nur einzeln eingelassen werden. Bis wir da drin sind, ist Pfingsten rum und das Konzert sowieso.

Wie wäre es mit einer Pappschachtel für Pizza? Family Size? Wir könnten sie wie einen Sombrero über unsere Köpfe halten. Immerhin ein paar Extraminuten Schutz, bevor sie sich in Pappmaschee verwandelt. Oder wir marschieren in eine Kneipe und suchen uns dort etwas passendes an der Garderobe aus.

Inzwischen hat es sich eingeregnet. Wir haben bereits nasse Füße. Der Veranstaltungsbeginn rückt unaufhaltsam näher. Wir fügen uns unserem Schicksal. Immerhin kommen wir mit Regenschirm trocken ans Stadion heran. Ein letzter Hoffnungsschimmer: unsere Plätze befinden sich auf der überdachten Seite des Stadions. Ob das Dach weit genug über uns hinwegragt, ist auf unserem Lageplan nicht eindeutig ersichtlich.

Am Odeonsplatz müssen wir umsteigen. Genau dort erbarmt sich eine höhere Macht - mich springt die Lösung unseres Problems an. Genauer gesagt, schiebt sich in diesem Moment einen Reinigungswagen zum nächsten vollen Abfalleimer.

„Wo volle Mülltüten sind – sind auch leere“, schießt es mir durch den Kopf. Ich sprinte los. Der Mitarbeiter der Münchner Stadtwerke schaut mich erschrocken an, als ich ihm zurufe: „Ich kaufe Ihnen zwei blaue Tüten ab“. Der Mann ist augenscheinlich nicht deutscher Abstammung und ich weiß nicht, ob und was er verstanden hat. Ich wiederhole mein Begehren. Er schüttelt den Kopf „Keine blaue Tüte“.

Der glaubt doch wohl nicht im Ernst, dass er mich damit los wird?

Geduldig warte ich ab, bis er – sehr gewissenhaft und mit einer meditativen Gelassenheit – den Abfallbehälter leert und anschließend mit einer neuen blauen Plastiktüte versieht. Genau so etwas will ich. Ich unterstreiche mein Angebot wortlos mit einem 10-Euroschein und halte dabei zwei Finger in die Luft. Mit einem schüchtern-traurigen Blick sieht er mich an und schüttelt den Kopf. Wird das hier ein Bieterwettbewerb oder will er wirklich nicht? Ich wäre bereit 20 zu zahlen. Ach was, ein Königreich für zwei blaue Mülltüten!

Er greift an den blauen Tüten vorbei und zieht rotes Plastik hervor. Wie sich herausstellt, sind auch das große Tüten. Er reißt zwei von der Rolle und übergibt sie mir wortlos. „Keine blaue Tüte“. Ich verstehe.

Hocherfreut und erleichtert halte ich ihm den Zehner hin. Er schüttelt erneut den Kopf, ohne eine Miene zu verziehen. Jetzt wird es wirklich peinlich. So geht das nicht. Wie viele Behälter muss dieser Mann leeren, bevor er sich eine Karte für die Rolling Stones leisten kann?

„Keine Diskussion!“ Ich drücke ihm den Schein in die Hand und bedanke mich überschwänglich. Dieser unscheinbare Mensch hat keine Vorstellung davon, was uns diese Tüten bedeuten. Selbst in Rot.

Pünktlich und im strömenden Regen erreichen wir das Olympiastadion. Am Eingang stapeln sich Berge von abgelegten Regenschirmen. Souverän ziehen wir unsere Plastiktüten hervor. Gute Vorbereitung ist eben alles. Der Regen stoppt. Von jetzt bis zum Ende des Konzerts wird kein Tropfen Wasser mehr vom Himmel fallen. Unser Sitzplatz befindet sich ausreichend weit unter dem Stadiondach. Die Plastiktüte befindet sich inzwischen im VIP-Beutel bei den anderen Kostbarkeiten. Die haben wir für einen abenteuerlichen Preis zusammen mit der Platzkarte erworben.

„It´s only Rock n´Roll (But I like it!)"

1976

Am 30.4.1976 spielten die Rolling Stones in Münster. Dort ging ich zur Schule, war 17 und bereit, die „bösen Jungs“ erstmals auf der Bühne zu erleben. Das Konzert war ausverkauft, noch bevor ich mich aufs Fahrrad schwingen und die Vorverkaufsstelle erreichen konnte. Die Enttäuschung ist schwer in Worte zu fassen. Nur wenige Tage später wurde ein zweites Stones-Konzert verkündet, ebenfalls in der Halle Münsterland. Zum gleichen Termin! Diesmal war ich schnell genug. Beide Konzerte waren restlos ausverkauft. Die Halle fasste 7.000 Zuschauer. Und ich war einer von ihnen.

Bis dahin ging ich davon aus, dass die Band aus 5 Musikern besteht. Tatsächlich wurden sie um einiges ergänzt: Piano, Percussions, Saxophon, Background-Gesang. Die Bühne war gerammelt voll, es war bunt, schrill und laut.

Keith Richards taumelte mit einer halbleeren Flasche Jack Daniels in der Hand zur zweiten Schicht des Tages auf die Bühne. Trotz schwerer Schlagseite hielt er die folgenden Stunden tapfer durch. Ohne fremde Hilfe, Stützräder oder Sitzgelegenheit blieb er auf den Beinen – die Gitarre sein einziger Halt.

Vom ersten Titel bis zum Ende des Konzerts hinkte sein Spiel unüberhörbar einen halben Takt hinter den anderen her. Die Qualität der zweiten musikalischen Darbietung dieses Abends lag zweifellos deutlich unter 100%. Dem Publikum war es schnurz.

Mick Jagger lieferte bei dem Auftritt eine Tanz- und Laufleistung ab, die einem Marathon in nichts nachsteht. Zwischendrin schwang er sich an einem dicken Seil von der Bühne weit über die Köpfe der Zuschauer hinweg wie Tarzan über einen Urwald voller wilder Tiere.

Das Publikum und die Musiker verschmolzen in einem Karneval des Irrsinns zu heißer Lava, die in einem Suppentopf brodelt. Und ich war mittendrin. Aus diesem Erlebnis nahm ich das Gefühl mit, an etwas teilgenommen zu haben, das nicht von Menschen gemacht war. Ich wurde Zeuge eines Naturereignisses, Überlebender eines Erdbebens, einer Sturmflut, eines Tornados. Ein archaisches Ereignis, das sich unauslöschlich in mein Gedächtnis einbrannte. Und ich konnte nichts dagegen tun.

"Jumpin´Jack Flash"

2014

Publikum im einstelligen Tausender-Bereich gab es nicht mehr lange. Ich lernte diverse Fußballstadien kennen, weil ich auch weiterhin die Auftritte der Rolling Stones besuchte. Hannover, Köln, München. Die Shows wurden größer und besser, die Musik immer zeitloser.

Meine solide, über die Jahre gewachsene Hingabe zu den Stones wurde 2012 um die Liebe zu einer Frau ergänzt, die ich später heiraten würde. Sie hatte Zeit ihres Lebens beruflich mit Musik und Künstlern zu tun und ist noch immer ein wandelndes Lexikon in Sachen Pop- und Rockkultur der DDR. Die Stones kannte sie zwar, allerdings nicht persönlich. Das sollte sich 2014 ändern.

Die Großväter des Rock n´Roll waren nach 50 Bühnenjahren noch immer auf Tour. Berlin war einer von zwei deutschen Veranstaltungsorten. Ihr letzter Auftritt in der Hauptstadt ging ins Jahr 2006 zurück. Die 18.000 Karten für die Waldbühne waren innerhalb weniger Minuten ausverkauft. Zwei davon konnte ich ergattern.

Konzerte in der wundervollen Waldbühne sind immer eine große und trotzdem irgendwie kuschelige Angelegenheit. Diesmal war es ein ganz besonderes Ereignis, weil mich die kleine Rothaarige begleitete. Wenn auch spät, konnte auch sie endlich die Götter des Rock-Olymps persönlich beim Musizieren erleben. Wir tanzten und lachten und die Frau an meiner Seite schrie unentwegt „Ich glaub, ich flipp aus! Ich flipp aus!“

Oder war ich es, der geschrien hat?

„Honky Tonk Women“

2018

Nur vier Jahre lagen zwischen der Waldbühne und dem Olympiastadion, wo die Stones 2018 auftraten. Die Rote hatte beschlossen, sich fortan mit ihrem ersten und einzigen Rolling Stones Konzert zu begnügen. Zudem war sie genau an diesem Tag die Ausrichterin eines der wichtigsten Familienfeste - dem „Cousinentreffen“ - und amüsierte sich anderweitig.

Ich trug meine Einsamkeit und die wenig einladende Kulisse des Olympiastadions mit Fassung und genoss einmal mehr die Magie der kraftvollen, mitreißenden Darbietung und des musikalischen Vortrages.

Zwei Jahre später führte Corona zum Abbruch der Rolling Stones Tour in Amerika.

Am 24. August 2021 verstarb ihr Schlagzeuger Charly Watts.

„Miss you“

2022

Seit 30 Jahren wurde immer wieder über „das letzte Konzert“ der Stones spekuliert. Nach dem Tod von Charly Watts wäre es verständlich gewesen, hätten sie das Ende ihrer musikalischen Karriere bekanntgegeben.

Offensichtlich war die Zahl „60“, zu greifbar und zu verlockend, um sich mit einem weiteren Rekord in der Musikgeschichte zu verewigen.

„Müssen“ müssen sie jedenfalls nicht. Schon gar nicht wegen des Geldes. Sie tun es, weil sie es wollen, vor allem aber, weil sie es noch immer können und offensichtlich lieben.

Was Keith Richards mit seinen arthrosen Händen aus der Gitarre holt, ist nicht nur virtuos, sondern vor allem ein medizinisches Wunder. Und während mein Begleiter Lars und ich feststellen, dass uns nach einer Stunde Stehen und auf der Stelle tanzen die Füße weh tun, springt, tanzt und singt wenige Meter von uns entfernt ein 78-jähriger Mann unermüdlich über die riesige Bühne wie ein frisch aufgeladener Duracell-Hase.

Zugegeben, die Pausen zwischen den Stücken sind etwas länger, die Laufstrecken kürzer, das Tempo langsamer und statt Jack Daniels wird zwischendrin an Flaschen mit isotonischen Getränken genuckelt.

Auch ein Rolling Stone ist nur ein Mensch. So wie sein Publikum. Es gibt nicht viele Veranstaltungen, auf denen du dich mit 60 irgendwie jung fühlst. Ein Blick auf die anderen Besucher und man kommt sich vor wie auf einem Veteranentreffen anlässlich der Jahrestage von Verdun 1916 oder dem D-Day 1944. Statt mit glänzenden Orden schmücken sich die Greise und Greisinnen hier allerdings mit den T-Shirts längst vergangener Schlachten – sorry – Konzerte.

Aber es gibt auch Publikum, das mit Jahreszahlen, die mit 19 anfangen, überhaupt nichts mehr anfangen kann. Die Rolling Stones begeistern nämlich nicht nur die „ewig Jungen“, sondern ebenso deren Urenkel. Das muss auch erstmal jemand schaffen.

Über 125 Minuten lang halten die 19 Titel der Stones zigtausend Menschen im Bann. Die Stimmung an diesem Abend ist seltsam magisch. Alle wissen, warum sie hier sind und alle sind sich bewusster als sonst, dass es das letzte Mal sein kann. Denn selbst, wenn es noch eine Tour zum siebzigsten Bühnenjubiläum geben sollte, irgendwann wird „I can´t get no satisfaction“ ein letztes Mal gespielt sein, die Lichter für immer angehen und wir werden den Veranstaltungsort mit dem Wissen verlassen, dass es keine Zugabe mehr geben wird.

“Time waits for no one”

Street Fighting Man

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Kommentare

Kommentar von Klaus |

Einfach nur geil ...

Kommentar von Problemcousine |

Da ich ja ungefähr Dein Alter habe - die Musik unserer Jugend, also die 70 er Jahre, ist auch die , die ich heute immer wieder anhöre. Was für Dich die Stones sind, ist für mich Eric Clapton. Und bei Konzerten schaut man über die horrenden Preise sowie manche körperliche Schwäche unserer Idole hinweg. Sowas können die Spätgeborenen oft nicht nachvollziehen. Der kraftvolle Sound, ohne Computer verbogen, lässt mir immer noch die Haare zu Berge stehen.... Einfache , eingängliche Gitarrenriffs und diese charakteristischen Stimmen - einfach nur toll.

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