Grenzstadt
von Peter Schäfer (Kommentare: 0)
Schöner Wohnen in San Diego
Das Apartment ist klasse. Gross. Modern. Hell. Zentral gelegen. Und echt günstig. Schnäppchen, sozusagen. Wir liegen so zentral, dass um uns permanent das Leben tobt. Oder auch was anderes. Tags und - vor allem aber - Nachts. Von San Diego aus kann man mit der Strassenbahn bis zur mexikanischen Grenze fahren. Großartig. Die Strassenbahn fährt direkt durch an unserem Apartment vorbei. Mit quietschenden Rädern, über rasselnde Gleise. Nicht ganz so großartig.
Bedürftige und wohnungslose Menschen versammeln sich vor einer ihrer Rettungsinseln - der Heilsarmee. Die unterhält auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine kasernengroße Versorgungsstation. Das ist toll und begrüßenswert. Probleme haben wir damit, dass die Menschen, die geduldig auf die Öffnungszeiten der Hilfseinrichtung warten, große Musikliebhaber sind. Vor allen aus den Bereichen Rap, Hip Hop und Rap und Hip Hop und Rap und …
Es schallt in Presslufthammerlautstärke und aus allen Himmelsrichtungen durch unsere einfach verglasten Fensterscheiben, die nicht ganz dicht schliessen. Morgens um 4 Uhr finden wir auf der Suche nach einem fensterlosen Raum in der Wohnung eine grosse Familien-Jahrespackung Ohrstöpsel (kein Witz!).
Haben wir auf dem Buchungsportal im Internet etwas übersehen.
Sparsamkeit Geiz ist überhaupt nicht geil.
Feiertag
Schlaftrunken fragen wir uns am Morgen, ob wir alles nur geträumt haben. Draußen herrscht himmlische Ruhe, wenn nicht gerade wieder die Straßenbahn durch an unserer Wohnung vorbeirumpelt. Von Menschen nichts zu sehen. Auch Autos lassen sich an einer Hand abzählen. Es ist 8 Uhr früh. Wir befinden uns in der zweitgrößten Stadt Kaliforniens, der achtgrößten in den USA und draußen sieht es aus wie nach einer Evakuierung. Ist es das, was an uns vorbeigerauscht ist? Haben wir im Erschöpfungskoma mit zugestöpselten Ohren die Sirenen nicht gehört? Wichtige Fluchtaufrufe verpasst?
Wir wagen uns zu Fuß in die entvölkerte Stadt. Es ist Montag morgen. Wir gehen los in Richtung des "Gas Lamp Quarters". Es ist eins der touristischen Highlights der Stadt. Das Angebot der unzähligen Gastronomie-Einrichtungen in den historischen Gebäuden läßt auf intensiven Publikumsverkehr schließen. Wir können kein Publikum erblicken. Ganz zu schweigen von Verkehr. Eine Landschaft ohne Menschen ist paradiesisch. Eine Großstadt ohne Menschen ist gespenstisch. Es fühlt sich jedenfalls nicht richtig an. Dazu der graue Himmel. Die Gattin fröstelt. Sie hebt eine Blume vom Boden. Eine Botschaft? Von wem? Wofür? Ein letzter Gruß an uns? Als letzte zwei Verbleibende auf diesem Planeten? Die Frau klammert sich noch enger an den Chronisten. Ihr ist unheimlich und sie ist den Argumenten, dass es für alles eine vernünftige Erklärung gibt, nicht zugänglich. Also alles wie immer.
Eine Telefonanruf bei unseren Freunden in Oceanside bringt die Auflösung: Es ist Martin Luther King Jr. Day. Des am 15.Januar 1929 geborenen und 4. April 1968 ermordeten amerikanischen Bürgerrechtlers wird an jedem dritten Montag im Januar gedacht. Und kaum haben wir das erfahren, stehen wir nicht nur vor einer in den Boden eingelassenen Steintafel mit einem Zitat des Verstorbenen, sondern an einer regelrechten Galerie davon. Das ist sehr merkwürdig, aber wir beschreiten soeben tatsächlich die Martin Luther King Jr. Promenade. Wir wussten weder von dem Feiertag noch von der Existenz des Weges. Zufall?
Die zitierten und zitierfähigen Inschriften des Predigers und Politikers verraten etwas von seiner geistigen und moralischen Größe. Allerdings geben sie einen ebenso guten Hinweis darauf, dass von seinen Visionen auch 50 Jahre nach seinem Tod noch nicht viel erreicht wurde. Die USA sind noch nie ein Land feingeistiger Worte gewesen. Veränderung finden hier nur statt durch Konfrontation und die Niederringung des politisch Andersdenkenden. Allerdings scheint es so, als ob dabei langfristig immer wieder die Gewalt und die Brutalität, rechts von einer demokratischen Mitte, obsiegt. Vor allem heutzutage ist das wieder zu beobachten. Ein Präsident Obama hat in acht Jahren jedenfalls weniger geschaffen, als ein Trump in nur 3 Jahren zerstört hat - inklusive all dessen, was Obama auf den Weg gebracht hat.
Aber Amerika bleibt Amerika. No matter what. Und wir begegnen hier jeden Tag nur netten Menschen. Schließlich treffen wir auch an diesem Tag noch auf Leben. Einige derjenigen, die die Stadt nicht für das lange Wochenende verlassen haben, finden wir im Sea Village, einer aufgepimpten Parkeinrichtung mit kleinen historischen Gebäuden. Zur Freude der Gemahlin finden sich hier jede Menge Ramsch- und Kramläden und zur Freude des Gemahls ein paar Restaurants. Ein paar Pommes später und es geht zurück in die Unterkunft. Der Himmel ist immer noch grau. Vor unseren Fenstern wird wieder gefeiert. Ob Dr. Martin Luther King oder jemand anderes, erfahren wir nicht mehr. Mit Erreichen des Apartments geht der erste Griff in die Packung mit den Ohrstöpseln.
Balboa Park
Dienstag ist wieder Werktag und damit findet die erwartete Bewegung um uns herum statt. Weiss-blauer Himmel ermutigt uns zu einer weiteren Erkundigung, diesmal in den sagenumwobenen Balboa Park. Neben dem (sehenswerten) Zoo von San Diego, den wir bereits besucht haben, gilt der Balboa Park als eine grosse Nummer in San Diego, die man gesehen haben muss. Und das meinen wir auch.
Hier findet sich die größte öffentliche Grünanlage der Stadt. Auf knapp 5 Quadratkilometern finden sich eine Vielzahl von kulturellen Einrichtungen und Museen. Benannt ist der Park nach dem spanischen Entdecker Vasco Núñez de Balboa und nicht nach Sylvester „Rocky Balboa“ Stallone, wie die rothaarige Frau ihrem Gemahl hartnäckig weismachen will.
Wir durchstreifen die Anlage in alle Winkel. Die Museen lassen wir aus. Das ist alles zu viel für einen Tag. Schließlich drängt die Frau zur Eile. Wir sind zu Fuß und sie will vor Dunkelheit die Unterkunft erreichen. So sind wir dann auch rechtzeitig vor der Beginn der nächtlichen Straßen-Disco zurück. Die Ohrenstöpsel warten schon.
Nach Norden
Am Reisetag strahlt der Himmel kalifornisch blau. Zu spät, San Diego! Du hattest Deine Chance. Wir machen uns auf den Weg nach Oceanside. Der Mietwagen hat diesmal Schulbusgröße und riecht wie neu. Herrlich! Wir werden ihn erst wieder in L.A. abgeben, wenn es zurück in die Heimat geht.
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