Qual-O-Mat
von Peter Schäfer (Kommentare: 2)
2021 ist Wahljahr.
„Schon wieder?“, fragt man sich spontan. Haben wir nicht gerade erst gewählt? Irgendwie kommt es einem so vor. Wem haben wir damals unsere Stimme gegeben? Puh. Und warum? Äh..... Keine Ahnung. Man kann sich schließlich nicht alles merkeln.
Auf jeden Fall heißt es am 26. September wieder: Neues Spiel - neues Glück. Alles auf Anfang. Die Bleistifte gespitzt und ran an die jungfräulichen Wahlzettel. Entscheide Dich, lieber Wähler, liebe Wählerin. Nimmst Du Partei 1 oder lieber die 2 oder vielleicht doch die 40.
Vierzig?!
Ja, da staunt man nicht schlecht. Ein Blick auf das Parteien-Angebot und man fühlt sich in ein chinesisches Restaurant versetzt. Gut, da geht die Nummerierung weit ins Dreistellige, aber für uns über 50-Jährige wird es ja bereits im mittleren zweistelligen Bereich unübersichtlich.
Nun kann ein Überangebot an Speisen und Getränken dazu führen, dass man sich plötzlich und wie durch Zauberhand bereits satt und gestopft fühlt, bevor man überhaupt einen Happen verzehrt hat. Beim Überfliegen der langen Liste von zur Wahl stehenden Parteien überkommt einen ein ähnlich mächtiges Sättigungsgefühl. Verbunden mit Ratlosigkeit.
Bis Platz 10 kommt man noch einigermaßen mit. Ganz vorne stehen die üblichen Verdächtigen. Sie haben eine realistische Chance, sich am Wahlabend mit einer zweistelligen Prozentzahl selbst zu beklatschen. Danach wird es kunterbunt. Ähnlich wie man sich im China-Restaurant unter „8 Köstlichkeiten“ alles Mögliche vorstellen kann, lassen auch die angebotenen Parteien ausreichend Platz für eigene Bilder im Kopf. Einige Namen (z.B. Freie Wähler, Piratenpartei, DKP) hat man irgendwann schon mal gehört. Andere klingen wie Coaching-Angebote aus allen Bereichen des täglichen Lebens: V-Partei - für Veränderung, Vegetarier und Veganer. Demokratie in Bewegung. Allianz für Menschenrechte, Tier- und Naturschutz. Partei für Gesundheitsschutz. Gartenpartei. Die Urbane - Eine Hip Hop Partei. Und etliches Mehr.
Bevor man sich nun für eine der vielen neugierig machenden Verlockungen auf dem Wahlzettel entscheidet, wäre es eigentlich schön zu wissen, wofür die jeweiligen Parteien noch so stehen, außer für Friede-Freude-Eierkuchen. Wer dabei geneigt ist, den Parteiprogrammen mehr Glauben zu schenken als dem Wochenhoroskop in seiner Lieblingszeitung, muss sich allerdings durch eine Menge Papier arbeiten. Aber welchen Sinn macht das, wenn die Lebensdauer politischer Ankündigungen kürzer ist als die einer ungeschützten Kugel Eis in der Wüstensonne?
Zum Glück gibt es für alle Unwissenden und Unentschlossenen Abhilfe: der Wahl-O-Mat.
Laut Wikipedia handelt es sich dabei um eine internetbasierte Wahlentscheidungshilfe, die seit 2002 von der Bundeszentrale für politische Bildung betrieben wird. Sie wird für in Deutschland aktuell anstehende Europa-, Bundestags- und Landtagswahlen angeboten. Über die Wahl-O-Mat-Website kann man außerdem schnell zu weiteren Informationen über die anstehende Wahl und die Parteien gelangen.
Tolle Sache, denkt der verunsicherte Wähler erleichtert, bis er irgendwo im kleingedruckten herausfindet, was der O-Mat eigentlich zur Wahl anbietet und welchen Nutzen er den Anwendern verheißt: vorausgewählte politische Thesen, die die Meinungen der zur Wahl stehenden Parteien widerspiegeln und die man mit seinen eigenen Ansichten vergleichen kann.
Aha.
Interessant wird es, wenn man weiß, WER die Thesen vorauswählt. So ist nachzulesen, dass z.B. der Thesenkatalog für die Bundestagswahl 2013 von einem Redaktionsteam aus 25 Jungwählern im Alter von 18 bis 26 Jahren aus verschiedenen Teilen der Bundesrepublik entwickelt wurde.
Wenn ich mich an mein Studium zurückerinnere, mit "Statistik und empirische Forschung" als Prüfungsfach, bin ich mir nicht ganz sicher, ob diese Stichprobe damals als repräsentativ gegolten hätte.
Der Wahl-O-Mat wurde erfunden, um Jung- und Erstwähler zu erreichen. Warum das nun nicht groß und breit - wie eine Warnleuchte - über dieser Anwendung steht, soll hier nicht diskutiert werden. So ist es aber auch nicht verwunderlich, dass es seit der Einführung in den Wahlkämpfen immer wieder Kontroversen gab, unter anderem aufgrund der Fragenauswahl, der eingeschränkten Antwortmöglichkeiten oder des Wahrheitsgehalts der von den Parteien gegebenen Antworten. Von einigen Parteien und Politikern wurde sogar kritisiert, dass manche Abfragen nicht mit den offiziellen Aussagen der jeweiligen Wahlprogramme übereinstimmen. Deswegen lehnten - nur mal als Beispiel - die Parteien CDU und SPD die Zusammenarbeit mit der Wahlomat-Vorbereitungs-Mannschaft zur Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern 2006, 2011 und 2016 ab.
Trotz aller Kritik wurde der Wahl-O-Mat bis März 2021 über 85 Millionen Mal genutzt. Er stand seit 2002 zu über 50 Wahlen zur Verfügung – 5 Wahlen zum Deutschen Bundestag, 4 Wahlen zum Europäischen Parlament und zu 46 Landtagswahlen.
Natürlich ist es bloße Spekulation, zu unterstellen, dass die eifrige Nutzung dieser "politischen Information" in letzter Konsequenz zu maßgeblichen Verhaltensänderungen und Wahlentscheidungen bei den Anwendern führt. Aber unterschätzen sollte man es eben auch nicht. Denn spätestens mit Corona ist offenkundig geworden, welche intellektuellen Nebenwirkungen entstehen, wenn "Wissenschaft" und Folklore auf merkwürdige Weise zusammen Polka tanzen und dabei glauben, sie würden damit Meinungen "bilden" oder "informieren".
Es bleibt zu überlegen, ob es nicht sinnvoller wäre, den Wahl-O-Mat aus dem Resort der politischen Bildung nach dorthin zu verlagern, wo Unterhaltung, Belustigung und Esoterik verwaltet werden.
Der größte Knackpunkt aber ist, dass der Wahl-O-Mat in seiner Zielrichtung Alt-und Wiederholungswähler ausschließt. So gibt es für uns Silberrücken unter den Wahlberechtigten zwar Seniorenteller und ermäßigte Eintrittspreise, aber kein belastbares Instrumentarium, dass uns über unsere politischen Bedürfnisse aufklärt.
Da sich der Chronist noch ziemlich jung fühlt, will er aber zumindest wissen, was er nach Ansicht von Menschen, die seine Kinder und Kindeskinder sein könnten, wählen sollte.
In Berlin finden die Wahlen zum Deutschen Bundestag und für das Berliner Abgeordnetenhaus zeitgleich statt. Das Orakel Der Wahl-O-Mat wird also zweimal aufgerufen.
Die ersten 10 Minuten kostbarer Lebenszeit werden Berlin und seinen politischen Problemen gewidmet, unter anderem mit Aussagen wie „Die Autobahn A100 soll wie geplant weiter gebaut werden“ oder "Das Campieren von Obdachlosen an zentralen öffentlichen Orten soll unterbunden werden" zu befassen.
Die nächste viertel Stunde gehört den Statements zur Bundestagswahl, wo es z.B. um Fragen geht wie "Bundesbehörden sollen in ihren Veröffentlichungen unterschiedliche Geschlechtsidentitäten sprachlich berücksichtigen" oder "Das Tragen eines Kopftuches soll Beamtinnen im Dienst generell erlaubt sein" oder "Deutschland soll aus der europäischen Union austreten".
Schon während der Bewertung der einzelnen Punkte macht sich das Gefühl breit, es hier mit einer Art Glückskeks für politische Meinungsbildung zu tun zu haben: herrlich unverbindlich bis hin zu erfrischend blöd.
Doch das Beste kommt wie immer zum Schluss - wenn Wahl-O-Mat errechnet, welche Partei dem Befragten am nächsten steht und welche am fernsten.
Demnach wird der Chronist in Berlin am besten durch Graue Panther und am schlechtesten durch Die Linke vertreten.
Für die Wahl zum Bundestag landet die Partei für Gesundheitsforschung auf dem ersten Rang und Volt auf dem letzten.
(Das Chronist versichert eidesstattlich, dass es sich hierbei um keinen Witz seinerseits handelt. Die oben genannten Parteien wurden ihm - nach ehrlicher und ernsthafter Bewertung aller Aussagen - vom Wahl-O-Mat als Ergebnisse präsentiert.)
Leicht irritiert und schwerer verunsichert als vor der Nutzung des Wahl-O-Maten macht sich der Chronist auf die Suche, um etwas mehr über die beiden Wahlempfehlungen zu erfahren.
Dabei stößt er auf zwei andere Kandidaten, die er bisher übersehen hat und die nun seine Aufmerksamkeit erregen.
Die Menschliche Welt - für das Wohl und Glücklichsein aller kam 2017 auf ein Ergebnis von 0,0 %. Da hat jede Stimme noch ein echtes Gewicht. Aber auch die Partei Liebe bietet Möglichkeiten. Sie tritt in diesem Jahr erstmals an als junge proeuropäische Partei und verfügt über 53 Mitglieder. Beste Voraussetzungen für aktive Teilnahme und eine persönliche, steile politische Karriere. Noch besser: "Ein spezifisches Programm für die Bundestagswahl 2021 gibt es bislang nicht". Das ist doch mal eine Ansage. Eine Partei, die nach der Wahl ihre Versprechen nicht verraten kann - weil sie gar keine macht. Und Liebe? Ein zeitloses Thema. Was könnte man dagegen haben?
Das ist doch mal eine echte Alternative.
Kommentare
Kommentar von Maxi |
Der Wahl-O-Mat ist doch nur zu unser aller Belustigung geschaffen worden.
Und es heißt "Kostbarkeiten" und nicht Köstlichkeiten, lieber Vegetarier!
Kommentar von Peter Schäfer |
Liebste Feinschmeckerin, ich kann mich an dieser Stelle nur allerherzlichst für diese kleine aber wichtige Richtigstellung bedanken.
Der Graue
(Nicht-Panther)
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