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Opa fliegt

von (Kommentare: 3)

Blau. Grün. Weiß. Soweit das Auge reicht. Himmel und Wolken. Wasser und Insel. Über mir und um mich herum – unendliche Weite. Nur der Blick nach unten endet nach fünfeinhalb Kilometern auf der Nordküste Oahus.

„Okay?“, fragt George, der an mir dranklebt wie eine Mutter an ihrem Neugeborenen. Rodriguez, der kleine Mexikaner mit seinem Kamerahelm auf dem Kopf, schiebt die Rolltür der Cessna Caravan hoch. Frische Luft wie aus einem kalten Föhn strömt auf unsere Körper. „Ready?“, hakt George nach und bevor ich ihn fragen kann, ob das eine Frage sein soll, baumeln meine nackten Beine im Fahrtwind.


„Sieh Dir das mal an.“ Mike zeigt mir auf seinem Laptop eine Buchung für Kalifornien. „Eine 97 Jahre alte Amerikanerin will in Oceanside einen Tandemsprung machen.“ 97? Das kann nicht sein. „Sie bringt noch drei Freundinnen mit, die auch springen wollen“, legt Mike nach. Ich schaue hin und sehe, dass die jüngste Teilnehmerin in den hohen 80ern ist. Augenblicklich schäme ich mich dafür, dass ich gelegentlich mit meinem mosaischen 66 Jahren kokettiere und die vorschiebe, wenn ich mich vor bestimmten Aktivitäten wie Müll runterbringen, Staubsaugen und Büro aufräumen drücken will.

Ich bin davon überzeugt, dass alles im Leben seine Zeit hat. Das aktive Fallschirmspringen habe ich vor einigen Jahren an den Nagel gehängt. Mich als Passagier einem Fallschirmspringer anzuvertrauen, käme mir nicht in den Sinn. Nach tausenden Sprüngen hat das auch was mit Selbstwertgefühl zu tun. Außerdem befürchte ich, ein paar wertvolle Erinnerungen und Bilder, die sich mit auf ewig ins Gedächtnis eingebrannt haben, zu beschädigen. Vor allem hier auf Oahu. Denn im Dezember 1987, vor über 35 Jahren, habe ich genau an diesem Ort ein paar wundervolle Sprünge gemacht.

Fallschirmspringen verlernt man eben so wenig wie Fahrradfahren. Was nicht heißt, dass man dabei nicht auch stürzen und sich verletzen kann. Wenn ich wieder allein springen wollte, wäre daher ein kurzes Vorbereitungstraining zwingend. Die Zeit haben wir nicht.

Mike hat inzwischen alles klargemacht. Ich bin in der nächsten Maschine. Video, Foto, das volle Programm inklusive. Ach ja, der Sprung erfolgt aus 5.500 Metern. Regulär sind es 4.000. Das ist dann doch was Neues für mich. Meine höchste Absprunghöhe lag bisher bei 5.000 Metern. Immerhin doch noch eine Premiere in meiner Fallschirmspringerkarriere. Längerer Steigflug. Länger Freifall. Dafür lohnt es sich glatt, die Flipflops gegen Turnschuhe zu tauschen.

Plötzlich bin ich mittendrin statt nur dabei und erlebe die tausendfach wiederholten Abläufe von GoJump, mit denen sie ihre Gäste sicher in die Luft und gesund auf den Boden zurückzubringen. Kurz und knapp, verständlich und empathisch, alles hochprofessionell. Und nicht nur, weil ich der Freund von Mike bin. Jeder Kunde wird hier von GoJump als Freund behandelt und nach der Landung wie ein Familienmitglied.

Derek, der heute für den Gesamtablauf verantwortlich ist, und George, mein Tandemmaster, waren beide noch nicht geboren, als ich bereits an diesem Platz gestanden und in die Luft geschaut habe. Nun helfen die beiden 35-jährigen Männer Opa über die Straße bzw. über den Taxiway zum Flugzeug.

Insgesamt sind fünf Tandempaare plus Kameraspringer an Bord. Das Flugzeug beschleunigt, es rumpelt und schaukelt. Mir fällt ein, dass heute Freitag ist. Der 13. Die Räder lösen sich vom Asphalt, der Wind greift der Cessna unter die Flügel. Mit 300 Metern in der Minute steigen wir in die Höhe.

Freitag der 13. Der war in meinem Leben bislang immer ein Glückstag. Nie ist mir da etwas Schlimmes passiert. Trotzdem muss ich während des Steigflugs ein paar Tränen verdrücken. Ich blicke auf die Insel hinab und stelle fest, dass sie noch immer so aussieht wie vor 35 Jahren. Zeitlos schön. Das kann ich von mir selbst nicht behaupten. Und dazu muss ich mir nicht mal alte Bilder von damals anschauen.

Wohin ist die Zeit? Was ist aus mir geworden? Und warum? Dass ich nun hier sitze, scheint so skurril wie zwangsläufig. Jetzt ohne Fallschirm aus dem Flugzeug zu stürzen ist irgendwie auch keine Lösung. Ich verspüre den tiefen Wunsch, mich heute Abend einmal mehr vom Sonnenuntergang am Strand von Waikiki verzaubern zu lassen.

Es gibt ein Leben jenseits der 60 und auch jenseits von Sprungplätzen und Flugzeugen. Als hätte er meine Gedanken gelesen, öffnet Rodriguez die Rolltür: Endstation. Alle aussteigen. Dillingham Airfield, Oahu. Fünfeinhalb Kilometer unter uns.

Kalte Luft weht in die Kabine. „Okay?“ fragt mein Tandemmaster George. Wir geben uns High Five.

Ran an die Tür. Und raus. Das hier ist keine Neugeburt. Auch keine Wiedergeburt. Es ist wie nach Hause kommen. Nach langer Abwesenheit. Die Wiedersehensfreude ist riesig. Alles ist vertraut. Ich fühle mich sicher und geborgen. Hier komme ich her. Hier gehöre ich hin. War ich jemals fort?

Der Wind heißt mich willkommen und tätschelt mir das Gesicht. Ich möchte ihn greifen und weiß, dass er das nicht zulassen wird. Wie jeder einzelne meiner tausenden Sprünge ist auch dieser nur eine Symbiose auf kurze Zeit. Und dennoch ist sie unvergänglich. Die Körperlichkeit, die Augenblicke unbeschreiblicher existentieller Freiheit, das kompromisslose Erleben der Naturgewalten. Alles komprimiert in eine Minute, die es mit der Ewigkeit aufnimmt. Intensiver kann Leben kaum sein. Einmal mehr weiß ich, warum dieser Sport über Jahrzehnte mein Leben bestimmt hat und es heute noch tut.

Nach 10 Sekunden haben wir Endgeschwindigkeit erreicht. 50 Meter legen wir in der Sekunde zurück. Das sind rund 200 km/h. Kameramann Rodriguez umkreist uns wie ein Kolibri die Blumenblüte. Er nähert sich, weicht zurück und hat mindestens so viel Spaß wie ich.

Irgendwann ist auch diese Party vorüber. George öffnet den Hauptfallschirm. Innerhalb von 2 Sekunden bremsen wir ab auf eine moderate Sinkgeschwindigkeit. Am geöffneten Fallschirm können wir reden, während wir an der Küste entlang auf den Landeplatz zusteuern. Der Flugplatz verläuft parallel zur Küste, nur einen Steinwurf vom Pazifik entfernt.

Wir landen federleicht und stehend. Ich freue mich noch immer wie Bolle. Mike nimmt mich strahlend in Empfang. Auch dieses tolle Erlebnis habe ich ihm zu verdanken. Wir umarmen uns. Wir wissen beide, dass dies gerade mehr war als nur ein Fallschirmsprung. Es braucht kein einziges Wort zwischen uns, um das klarzumachen.

Wie jeder Gast erhalte ich anschließend meine persönliche Bestätigung über das erlebte Abenteuer. Eingebunden in ein Buch, das mir nur zu vertraut ist. Die aktuelle Auflage wurde erst im Mai dieses Jahres gedruckt. Ein weiterer Kreis, der sich damit ebenfalls hier schließt.

Und noch ein Kreis, der sich für mich auf Oahu schließt, öffnete sich 1990 mit dem von mir gegründeten Magazin „Blue Sky – Fallschirmsport - Freizeit – Reisen“. In der Erstausgabe veröffentlichte ich einen Bericht über Hawaii. Basierend auf meinem Aufenthalt zwei Jahre zuvor. Ohne das Magazin und seine internationale Verbreitung wären Mike und ich uns womöglich nie begegnet.

„Blue Sky“ hat mir viele Türen geöffnet. Kontakte in der ganzen Welt beschert. Keine war so nachhaltig und bedeutungsvoll wie die Freundschaft zu Mike. 2008 mündete sie schließlich in intensiveren geschäftlichen Verbindungen.

Dass wir gemeinsamen an diesem traumhaften Ort stehen, den Mike erst im vorigen Jahr übernommen hat, kommt uns beiden nicht unbedingt vor wie ein Wunder, aber sehr wohl wie eine schicksalhafte Fügung.

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Kommentare

Kommentar von Bruno |

Wunderbar beschrieben Pjotr wie es nur ein Aktiver beschreiben kann. Ich erinnere mich auch sehr gerne an den Ort, habe ich doch das erste Mal dort mit einer Pitts Kunstflug erlebt.
Weiterhin viel Freude.

Kommentar von Tončič Merima |

Es ist unglaublich dass du Tandem Sprung gemacht hast...ein ex Profi im Fallschirm springen und Kameramann. Deine Gefühle und was du empfindest beim Tandemsprung , hast du sehr gut in Worte beschrieben. Sehr ehrliche Einstellung wie man sich im Jahre verändert hat. Tolles Bericht

Kommentar von Klaus |

Peter ist mal wieder in der Luft gewesen! Aus den Bildern spricht pure Lebensfreude, die nicht zu toppen ist!

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