On Route 66
von Peter Schäfer (Kommentare: 4)
Mike startet von Gate 12 nach San Diego. Eine halbe Stunde später fliege ich von Gate 12 nach Seattle. Dort verbringe ich eine Nacht, bevor ich am 17.9. nach Frankfurt zurückfliege. Einen Tag vor meinem 66. Geburtstag wird mich die Rote an sich drücken. Und ich mich an sie. Dieser Gedanke macht den Abschied von Hawaii erträglich.
Mike und ich trinken jetzt einen letzten Kaffee. Gehen unseren Gedanken nach. Zwei Wochen lang haben wir – wie immer - viel geredet. Nun ist eher Schweigen. Wie jedes Mal ist der Abschied auch diesmal so eine Sache. Ob, wie und wann wir uns wiedersehen – und wenn ja, in welchem Zustand – wer kann das schon sagen.
Im Leben gibt es für absolut nichts eine Garantie. Außer, dass es irgendwann einmal endet. Nichts ist vorhersehbar. Gewissheit gibt es nur über das Vergangene, über das, was wir erlebt haben. Das, an dem wir teilhatten. „Was Du nicht gemacht hast, hast Du nicht gemacht“, ist seit langem eine Art Mantra zwischen Mike und mir. Es bezieht das Leben in seiner Gesamtheit ein, privat wie geschäftlich. Wir sind beide gesegnet damit, dass in unseren Leben die Grenzen immer fließend waren. Das, womit wir unseren Lebensunterhalt bestritten haben, haben wir nicht allein aus wirtschaftlichen Erwägungen gemacht. Vielmehr hat es uns mit Sinn erfüllt und große Genugtuung beschert – was Mühsal, Niederlagen und großen Schmerz nicht ausschließt.
Nach Hause fliegen wir gegen die Zeit. Auf dem Weg nach Westen haben wir sie uns zuvor geklaut. Den Tag um ein paar Stunden verlängert. Doch niemand kommt auf Dauer damit durch. Auch wir nicht. Zeit ist unbestechlich. Vor allem aber unaufhaltsam.
In den nächsten zwölf Monaten werde ich also auf meiner persönlichen Route 66 weiterreisen. Die 70 ist jetzt näher als die 60. Auf die bin ich vor 10 Jahren zugesteuert. Mit der 50 im Rücken, habe ich mich bereits damals gewundert, wo die Zeit geblieben ist. Später im Flugzeug über dem Pazifik ertönt Bob Dylan aus meinen Kopfhörern treffend und doppeldeutig: “Time is a jet plane. It moves too fast.“
Was bleibt, sind neue Erinnerungen, die sich als Jahresringe um meinen Lebensbaum legen. Ich werde Tage, wenn nicht Wochen brauchen, um die Bilder der letzten zwei Wochen zu verarbeiten. Sie werden auf ewig in mir sein. Eingegraben, tief und fest wie Wurzeln im Erdreich. Dort halten sie am Leben, was ich jederzeit überirdisch abrufen kann. Ich muss nur die Augen schließen und sehe das dunkelgraue Polarmeer vor mir, den Ozean von alaskischen Bäumen, Arizonas hinreißend mystische Sonnenaufgänge, und ich höre das nächtliche Rauschen der Brandung von Waikiki Beach, die sich über den Balkon hinweg sanft in meine Ohren schmeichelt.
Nichts davon lässt sich kaufen. Selbst Amazon bietet das nicht an. Nichts von alledem lässt sich prätentiös vor sich hertragen oder vorzeigen wie ein teures Auto, Schmuck oder sonstige Statussymbole, die andauernd mit Reichtum verwechselt werden. Die wahren Schätze, die es sich anzuhäufen lohnt, sind Erlebnisse, die anschließend zu Erinnerungen werden. Bei der Reise in den Sonnenuntergang erinnern sie uns daran, dass wir noch leben. Dass wir gelebt haben. Am Ende ist das alles, was wir mitnehmen.
Auf meiner persönlichen Route 66 wird es hoffentlich auch weiterhin Abschnitte voller Abenteuer, Herausforderungen und unvergesslicher Momente geben. Dabei hat nicht nur das Vorankommen seinen Reiz. Die Perspektive verändert sich auch im Rückspiegel. Dort erkenne ich nicht nur die Meilensteine, Erfolge, bedeutsame Ereignisse und Schicksalsschläge. Immer häufiger sind es auch die kleinen, unscheinbaren Momente. Sie beginnen, mir mehr zu bedeuten als dereinst hochgesteckte Ziele. Offensichtlich wächst erst mit dem Alter die Fähigkeit, innezuhalten und auch Details der zurückliegenden Reise zu schätzen: die Begegnungen, die Windungen, die unerwarteten Abzweigungen.
Was hinter uns liegt, muss nicht perfekt sein, um wertvoll zu werden.
Ich lerne zunehmend, die Vollständigkeit meiner eigenen Geschichte und die Unvollkommenheit des eigenen Lebens zu akzeptieren. Dankbar zu sein für die sonnigen ebenso wie für die stürmischen Tage. Jeder Abschnitt der Route hat mich geformt, jede Erfahrung hat mich reicher gemacht. Was hinter uns liegt, muss nicht perfekt sein, um wertvoll zu werden. Und wieviel des Weges jetzt noch voraus liegen mag, es liegt an mir allein, ob ich es als das Ende der Straße - oder einen weiteren Abschnitt voller Möglichkeiten verstehe.
Einfacher wird das vor allem durch die Menschen, die mir schon lange nah sind und es in Zukunft hoffentlich noch sein werden. Nicht nur geliebt, sondern auch gebraucht zu werden, ist die beste Medizin gegen den unvermeidlichen Phantomschmerz über den Verlust der Jahre, die einem das Leben tageweise vom Leib trennt.
So freue ich mich, gemeinsam mit meiner kleinen Roten unser Enkelkind auf einem Teil seines jungen Lebens begleiten zu können. Und meinem Freund Mike bin ich auf ewig dankbar, dass er es mir ermöglicht, auch weiterhin einen kleinen Beitrag zu einem so großartigen Unternehmen wie GoJump America beisteuern zu können. Zumal „Altersdiskriminierung“ und „alter weißer Mann“ inzwischen keine Floskeln mehr sind, sondern eine konkrete neue Lebenserfahrung für mich.
Dann doch lieber Gas geben, solange das Benzin im Tank reicht. Ich bin jedenfalls sicher, dass auf der Route 66 noch ein paar anständige Kicks auf mich warten. Und ich bin sehr gewillt, sie mir auch zu holen.
Kommentare
Kommentar von Bruno |
Pjotr,
ich bin sehr berührt über das was Du hier zum Ende der Reise schreibst. Du kennst mich ja ein wenig und es hat mir das Wasser in die Augen getrieben. Dass Du großartig schreiben kannst, wissen wir alle aber diese Zusammenfassung von Reise und Leben, Erfahrungen und Dankbarkeit sowie Wertschätzung des gelebten Sein's, habe ich noch nie schöner gelesen.
Danke dafür und natürlich auch danke, dass Du mich, und sicherlich viele Deiner Freunde mitgenommen hast❣️
Kommentar von Helmut B. |
Lieber Peter,
bin sehr beeindruckt von Deinem (stellenweise geradezu philosophischen!) Rückblick auf Deine/eure jüngste Reise im Besonderen und das Leben im Allgemeinen.
Franzi und ich haben uns an sehr vielen Stellen „wiedergefunden“ in der Bewertung und teilen Deine Einschätzungen uneingeschränkt.
Aus unserer Sicht rührt daher eine bestimmte innere Zufriedenheit und eine gewisse „Abgeklärtheit“ bezüglich der Amplituden die das Leben so parat hält.
Wie schon immer, bewundere ich nach wie vor Deine Formulierungskunst und Deinen Schreibstil.
Daher, mach‘ weiter so und denk‘ dran: nach ROUTE 66 kommt bestimmt noch ROUTE 77!!
Herzliche Grüße
HuF aus Wallerfangen
Kommentar von Klaus |
Nachträglichen herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag vom notorischen Geburtstagsvergesser. Bleib einfach wie du bist und mach so weiter, bis 77, 88 und 99. Dann springen wir zusammen auf Oahu!
Kommentar von Klaus Ulbert |
Servus Peter,
nachdem ich von Bruno auf deinen/euren Blog aufmerksam gemacht wurde, verfolge ich diesen mit großem Interesse und sehr beeindruckt und amüsiert.
Kompliment !
Großartig geschrieben !
Besonders die beiden letzten Beiträge (Opa fliegt & On Route 66) haben mich ungemein angesprochen, nicht zuletzt, weil ich seit mehr als fünf Jahrzehnten der Fallschirmspringerfamilie angehöre - und mittlerweile jenseits der 70 angekommen bin.
Zumindest in diesem Punkt ein kleiner Vorsprung !
Ansonsten haben Bruno und Helmut B. in ihren Kommentaren schon alles äußerst treffend geschrieben.
Ihren Sätzen kann ich nur uneingeschränkt zustimmen - und mich anschließen .
Apropos Bruno :
Wir kennen uns schon zahlreiche Jahre (aus Meißendorf und dem Großraum Hannover),haben uns dann aber unglücklicherweise aus den Augen verloren.
Bis wir uns vor rund zwei Jahren wiedergefunden haben !
Dem lieben Gott sei Dank dafür !
Übrigens Peter, in Meißendorf sind wir uns ebenfalls mehrfach begegnet.
Damals sahen wir allerdings etwas jünger aus.
Für heute viele liebe Grüße, eine gute Zeit - und nur das Beste für das nächste Jahrzehnt, vor allem Gesundheit !
Klaus U. aus Prien am Chiemsee
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