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Nichts muss, alles kann

von (Kommentare: 1)

An Tag drei auf dem Schiff habe ich meine beiden mitgebrachten Krimis ausgelesen. Ich muss zugeben, dass die Stellen, an denen ich über den Buchrand aufs Meer schaue, spannender sind als der Inhalt der angeblichen Bestseller. In dem einen ging es um eine psychopatische Kriminalkommissarin, die gar keine war, in dem anderen um eine verschwundene Umweltaktivistin, die aus Protest gegen den Anbau von Genmais ein paar Hundezüchter mit einer Schrotflinte eliminiert hatte. Oder so ähnlich. Es war alles sehr wirr. Oder kam es mir nur so vor? War ich so urlaubsreif, dass ich komplexen Handlungen mit mehr als drei Personen nicht mehr folgen konnte? Wundern würde es mich nicht.

So hebe ich mit großer Kraftanstrengung die Lider – und bin mit dem, was ich sehe, vollkommen einverstanden: Blaue Linien. Breitengrade vor meinen Augen: Die Reling, den Horizont, das Meer, silbergrau und wie ein leicht blinder Spiegel. Klare Abgrenzungen. Einfache Bilder. Wohltuende Schlichtheit für meine von Outlook-Kalendern und Web-Ex-Einwahldaten müden Augen. Und immer die gleiche Musik: Das Rauschen des Wassers. Die Wellen, die am Schiff brechen. Der beruhigende Puls des Meeres.

Für derartige Schiffsreisen – Seetage ohne alles – muss man stark sein, und sehr im Einklang mit sich selbst. Ist das so? Wie erklären wir immer wieder, nicht zuletzt uns selbst - was wir daran so sehr mögen? Wenn Freunde erstaunt die Augenbrauen heben: „Nur Seetage? Ohne Anlegen?“. Absolut! Genau das!

Hier haben die Gedanken ausschweifenden Raum, und – abgesehen von den Mahlzeiten – wir werden von keinen Terminen getrieben. Wobei „Termine“ besonders für mich durchaus im doppelten Sinne gilt. Mein Job besteht zuhause darin, sehr viele dieser Terminbälle, die nicht meine eigenen sind, gleichzeitig in der Luft zu halten und darauf zu achten, dass sie sich weder in die Quere kommen noch auf dem Boden zerschellen. Und hier: Von 100 auf 0. Schon an Tag 2 habe ich alles vergessen, was mich zuhause ständig unter Strom hält.

Obwohl das Tagesprogramm, das am Abend auf dem Kopfkissen liegt, mehrseitig ist – kein Termin ist ein Muss. Hier MUSS ich gar nichts. Ich könnte theoretisch den ganzen Tag im Bett liegen bleiben, durch die geöffneten Balkonfenster aufs Meer schauen und absolut nichts tun. Selbst das Essen könnte man sich kommen lassen. Rein theoretisch natürlich.

Natürlich machen wir hier auf diesem wunderbaren Schiff nicht nur das. Wir bewegen uns durchaus. Wir laufen freiwillig die Treppen hoch und runter, durchstreifen alle Räume, lernen schnell, wo hinten und vorn ist. Wir schwimmen sehr früh, noch im Dunkeln, ein paar Runden im Pool. Wir sitzen sehr lange beim Frühstück, ich gehe zu Vorträgen und Workshops, abends schauen wir uns kleine Shows an, gehen zu einem Empfang, zu dem wir eingeladen sind, plaudern mit anderen Gästen. Wir essen zu Mittag, entgegen der guten Vorsätze, mehr als nur einen Salat. Nachmittags lauschen wir dem Pianisten im Belvedere und ich knabbere an einem Stück Torte. Und immer und immer wieder bleiben wir an der Reling stehen und schauen. Es ist, als würden die Batterien des Körpers über Augen und Ohren aufgeladen. Ein paar Delphine tauchen auf, als wollen sie meine Theorie untermalen. DAS HIER kann man nicht erklären. Man liebt es, oder man ist ratlos.

Es ist wie eine Reset-Taste. Man muss stillhalten. Anhalten. Aushalten.

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Kommentare

Kommentar von Die Kleene |

Positiver Neid! Ich kann das absolut nachvollziehen. Weiterhin viel Entspannung auf eurer Reise und ich freue mich sehr auf weitere Eindrücke und Fotos. Eure treue Leserin Die Kleene

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