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Ja wo fliegen sie denn?

von (Kommentare: 4)

Wir verfolgen die Nachrichten. Wir wissen Bescheid. Der Luftverkehr ist in den letzten Monaten um 70 Prozent eingebrochen. Wir malen uns aus, wie es wohl auf den einst überlaufenen Flughäfen aussehen muss.

Und doch reicht die Fantasie nicht aus, um sich vorzustellen, wie es sich ANFÜHLT, auf einem Geisterflughafen unterwegs zu sein. Außer man wäre ein Mitarbeiter auf der Baustelle des BER.

Meine Reise geht von Berlin-Tegel nach Zürich. Ein Katzensprung. Trotzdem setzt vor der Abreise eine eigenartige Unsicherheit ein: Es ist der erste Flug nach unserer Rückkehr von der großen Weltreise. Und vor allem: mein erster Flug in den Zeiten von Corona.

Mit leichtem Erstaunen stelle ich fest, dass in Tegel noch alles an Ort und Stelle ist. Keine verfallenen Gebäude, keine Trümmer, keine Abraumhalden. Im Gegenteil. Unter praller Sonne und strahlendem Himmel präsentiert sich der Flughafen so jungfräulich wie wahrscheinlich letztmalig zu seiner Ersteröffnung. Was damals wie ein Versprechen in die Zukunft aus der Berliner Erde gewachsen war, lässt nun erneut Raum für Spekulationen. Explodierende Fluggastzahlen kommen darin allerdings nicht mehr vor. Alle Airlines reduzieren ihre Flotten in substantiellem Umfang, Personal wird im mittleren fünfstelligen Bereich entlassen. Vorzeigefirmen, die einst wulstigen Wohlstandsspeck angesetzt hatten, stehen nach Staatshilfen an wie Bedürftige vor der Suppenküche.

Ein Hauch von BER weht inzwischen über alle Flughäfen im Land. Der einzige Unterschied ist, dass von der Großbaustelle im Süden Berlins noch nie eine Maschine abgehoben ist. Ein Zustand, dem sich die anderen in den letzten Monaten beängstigend angenähert haben.

Der Himmel über Tegel ist wolkenlos. Und ebenso flugzeuglos. Seit Jahrzehnten wurde hier im Minutentakt gestartet und gelandet. Bis ich das Terminal erreiche, taucht im Hintergrund doch ein Flugzeug auf und verschwindet am Horizont. Wieso überrascht mich das auf einmal?

Auch am Boden ist ungewohnt viel Platz. Die paar Fahrzeuge und Leute, die sich weitflächig verteilen, sind zu wenig, um das Grundrauschen zu erzeugen, dass jeden pulsierenden Airport wie eine Filmmusik untermalt.

 

So wie die modernen Bahnhöfe zu riesigen Shopping-Malls mit Gleis-Anschluss geworden sind, glichen die Großflughäfen Städten mit Startbahn-Anschluss. Nun sind sie die neuen Geisterstädte. Wie nach einem abgeebbten Goldrausch haben die Menschen den Ort der Wertschöpfung und der Hoffnung auf ein Leben im Wohlstand verlassen. Es gibt keinen Grund mehr, hier zu sein.

Die einst übervolle Abfertigungshalle fühlt sich an wie ein zu breit geratener Klinikflur, der in die Intensivstation führt. Ich rechne damit, dass jeden Moment ein Coyote aus einer Seitentür huscht und meinen Weg kreuzt. Stattdessen wirbelt nur eine Windhose durch das endlose Terminal und verliert sich irgendwo zwischen Schalter 7 und 8.

Von den Seiten und von Oben warnen, ermahnen und befehlen Anzeigetafeln und Aushänge in Sachen Seuche und dem Umgang mit ihr. Mir kommt George Orwells „1984“ in den Sinn. Der große Bruder*in sagt, wo’s langgeht.

Wie blinde Augen starren die digitalen Anzeigetafeln über den Check-In-Schaltern schwarz vor sich hin. Sie haben nichts mehr zu melden. Das bisschen Flughafenpersonal verliert sich in der Weite des Raumes. Die andere Hälfte steht draußen und raucht. Bezahlter Urlaub, irgendwie. Dazu brauchen sie nicht mal mehr ein Flugzeug. Um nach den langen Zigarettenpausen nahtlos in die Arbeitslosigkeit zu wechseln, auch nicht.

Alle Flüge werden zentral an einem Schalter eingecheckt. Zu meiner Überraschung sind die Lounges wieder geöffnet. Die einstmals zwei Lounges der Star Alliance wurden zu einer zusammengelegt. Ein paar Leute verlieren sich darin. Sie wirken wie Passagiere auf der sinkenden Titanic, die keine Lust haben, sich um einen Platz im Rettungsboot zu kloppen. Sie strahlen einen trotzigen Fatalismus aus. Entweder das Schiff geht unter - oder nicht. Solange noch ein Flugzeug abhebt, werden sie immer wieder hier sitzen - und nicht zu Hause warten, bis ihnen einer sagt, wie es weitergeht. Heute geht es für alle weiter. Wie ein Versprechen rollt nach einer halben Stunde das erste Flugzeug am Fenster vorbei. Vielleicht ist es aber nur eine Attrappe, die die Flughafen AG als moralische Aufmunterung für die Wartenden in der Lounge vorbeiziehen lässt. Potemkin’scher Flieger sozusagen.

Ich kann mich nicht erinnern, jemals - JEMALS - so unaufgeregt einen Flug angetreten zu haben. Kein Gerenne, kein Geschwitze, keine Rempeleien, keine nervösen Blicke auf die Uhr, während man in einer unbeweglichen Schlange vor der Sicherheitskontrolle wartet.

Die Maschine aus Zürich ist überpünktlich. Normalerweise dauert es mindestens eine viertel Stunde, bis der letzte Passagier raus ist und das neue Boarding beginnen kann. Nach zwei Handvoll Leuten und 5 Minuten ist das diesmal erledigt. Unsere Maschine ist zu 50% ausgelastet. Wäre die nervende Maske nicht, wäre es wie immer. Personal der Swiss Air und der Service sind 1A - wie gewohnt.

Der Flug geht ein bisschen schneller als gewohnt. Warteschleifen, überfüllter Luftraum - passé. Start- und Landeslots, für die sich die Flieger an- und abmelden müssen - es flutscht. Vom Take Off zum Touch Down - heute wie eine einzige fließende Bewegung.

Der Blick nach unten über das kleiner werdende Berlin, ein blauer Himmel für die nächsten 65 Minuten. Das ruhige Gleiten in 8000 Meter über Grund. Flug-Scham hin oder her: Fliegen ist einfach nur geil! Und das wird es immer bleiben.

In Zürich führt der Weg zum Ausgang durch einen großen Duty Free Shop. Er sollte in „Free of People“ Shop umbenannt werden. Wenn es so weitergeht, wird die Schokolade bald ranzig sein und das Parfum überlagert. Nur die 40 Jahre alten Premium-Whiskeys dürfte das alles nicht kratzen.

Ich warte auf Mike. Er will mich am Eingang abholen. Ich nehme auf einer Bank Platz und sehe in den folgenden 10 Minuten drei Autos vorbeifahren. Dann kommt mein Freund. Ich bleibe sitzen. Springe nicht auf. Winke ihm nicht aufgeregt zu, damit er mich besser sehen kann. Denn im Umkreis von ein paar hundert Metern befindet sich nur ein Mensch vor dem Außenbereich des Züricher Flughafens.

Und das bin ich.

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Kommentare

Kommentar von Die Kleene |

Eine Handvoll Leute und 5 Minuten check in....jetzt weiß ich auch, wie sich das anfühlt. Entspannt wie nie, aber auch irgendwie komisch.

Kommentar von Simone |

Da hättet Ihr ja locker nochmal nach Hause fahren können, um was Vergessenes zu holen!

Kommentar von Problemcousine |

Warum das Gendersternchen bei Bruder ? Du hast aber recht - Fliegen macht einfach Spaß.
Braucht man unter diesen Vorzeichen eigentlich das Milliardengrab BER ? Wohl eher nicht. Grüße aus MVP.

Kommentar von Peter |

Lieber Jens,
da ja jetzt überall gegendert wird auf Teufel komm raus und alle irgendwie mitmachen, ohne zu wissen warum, wollen wir nicht hinten anstehen.
Im Sinne von gen(d)eral correctness wäre es sowieso an der Zeit, Orwells Big Brother in Big Sister umzutaufen.
Gruß aus Berlin
Peter*in

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