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Hoch zu Ross ins Schloss

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Neulich waren wir zu Freunden nach Schwerin eingeladen. Wir fuhren übers Wochenende hin, der Himmel strahlte blau, das Wetter war herrlich. Die letzten Sommertage gaben nochmal alles.

Wir verbrachten einen unvergesslichen Tag auf einem kleinen Segelbötchen auf dem Schweriner See. Kein Windchen wehte, die Segel bewegten sich nur träge. Wir hielten die Gesichter in die Sonne und fotografierten das Schweriner Schloss, wie es sich im Wasser spiegelte. Und spätestens jetzt fiel eine Erinnerung in mein Gedächtnis, ich hatte ein Déjà-vu - und mein kleines Herz fing unglaublich schnell an zu klopfen: Hier war ich schon mal.

Nicht dass ich das jemals wirklich vergessen hatte. Hoch zu Ross war ich damals nach Schwerin gekommen, Mitte der 80er Jahre. Das liegt mehr als 30 Jahre zurück, und trotzdem erkannte ich den Blick über den See bis zu den Schlosstürmen, als wäre es gestern gewesen.
Seinerzeit war ich Mitte zwanzig. Ich schrieb Gedichte, die ich „Lyrik“ nannte, ich gab mein ärmliches Gehalt für Gedichtbände aus und schwärmte für Pablo Neruda, Eva Strittmatter und Heinz Kahlau. Ich schrieb in zerfledderte Notizbücher und später auf meiner Schreibmaschine. Ich war ein junges Talent und durfte zum Poetenseminar nach Schwerin. Da ließ man nur die Besten hin, ich gehörte dazu. Ich war auf dem direkten Weg zum Nobelpreis für Poesie. Der Förderpreis des Poetenseminars war dem mindestens gleichzusetzen.
Ich hab ihn nie bekommen.

Seinerzeit saßen wir unter der alten Weide am See, lauschten gegenseitig unseren schwergewichtigen Werken und stritten über Reime, Versmaß und den hundertprozentig weltverbessernden Sinn von Gedichten. Abends bei den Festen im Innenhof der Paulshöhe ordneten wir die Welt neu, tranken Rotwein und rauchten Karo, bis die Sonne aufging und der erste Geruch nach Kaffee aus der Mensa wehte. Zum Abschlussfest fuhren wir seinerzeit mit irgendeinem Dampfer nach Kaninchenwerder. Dort wurde gegrillt und wild getanzt, und der glückliche Förderpreisgewinner wurde von allen heimlich angehimmelt. Bei der Abreise umarmten wir uns vollkommen erschöpft vom Schlafmangel und schworen uns, nächstes Jahr im August wieder dabei zu sein. Alles war noch möglich.
Heute – zufällig auch im August – hole ich mir einen Sonnenbrand auf dem Schweriner See, vertrage nicht einen Schluck Rotwein und schon bei der Vorstellung, eine Karo rauchen zu müssen, wird mir ein bisschen übel.

Ich schaue vom Turm auf Kaninchenwerder in die grüne Landschaft und frage mich, wann diese gefühlt 100 Jahre vergangen sind, seit ich hier in Fleischerhemd und Römerlatschen herumtanzte. Der See glitzert in der Sonne. Noch immer liebe ich Gedichte, noch immer lese ich gern in den Büchern meiner Jugend. Die Gedichtbände haben einen Ehrenplatz in meinem Ikea-Regal. Aus einigen Dichtern, die ich damals in Schwerin kennenlernte, sind richtige Schriftsteller geworden. Aus mir leider nicht.
Ich genieße den Sommertag heute in dieser wunderschönen Stadt, und die Wehmut, die mich beim Anblick der alten Bank unter der Weide ergreift, dauert nur ein paar Minuten.

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