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Grenzenlos

von (Kommentare: 1)

Wir verlassen unser kleines Fischerdorf unter stahlblauem Himmel bei strahlender Sonne. Bis Kirkenes wird sich das nicht ändern.

Das Navi bietet uns für die knapp 600 Kilometer drei unterschiedliche Strecken an. Sie führen alle über eine gut ausgebaute Europastraße – jede kürzer oder länger durch Finnland hindurch. Die vierte Variante – einen nördlichen Halbkreis beschreibend und ausschließlich in Norwegen - verweigert uns der Satelliten-Kompass beharrlich. Die Karten zeigen aber eine Verbindung an. Wir schließen auf eine Nebenstrecke. Auch die wird befahrbar sein. Wir sind nun lange genug unterwegs, um zu kapieren, wie die Norweger ticken. Außerdem wollen wir nicht schnell, sondern schön.

Umgehend belohnt uns unsere algorithmusfreie Entscheidung. Während der ganzen Reise haben wir keine Strecke zurückgelegt, bei der wir so entspannt und mit einem Gefühl der Leichtigkeit und Freiheit unterwegs waren. Die Sonne kriegt sich während der ganzen Zeit überhaupt nicht mehr ein. Menschenbegegnungen können wir an zwei Händen abzählen, die mit Autos an einer. Die super befahrbare Straße passt sich der Natur an, als wäre sie schon immer hier gewesen. Alles fließt ineinander. Und wir fließen mit. Ein weiterer Tagtraum, durch den wir reisen.

Ich wusste vor der Ankunft, dass der Traum in Kirkenes enden würde. Ich war schon mal hier. Im Winter, wenn die Trostlosigkeit des Ortes gnädig unter Schnee verhüllt ist. Im Lichte des Sommers sieht es dann aus, wie es aussieht. Und das ist lediglich eine Feststellung. Jede Überheblichkeit bleibt uns im Halse stecken. Denn, ob und wie schön der Ort mal gewesen sein mag, wissen wir nicht. Deutsche und Russen setzten im 2. Weltkrieg auch Kirkenes schwer zu. Als die Deutschen 1944 den Rückzug antraten, legten sie die Stadt endgültig in Schutt und Asche. Bis auf 20 Häuser brannten sie alles nieder. Ein weiteres der weniger bekannten Ruhmesblätter im Portfolio unserer „großartigen“ Kulturnation.

Inzwischen ist auch Kirkenes globalisiert. Unser wenig glamouröses Kirkenes Hotel wird von einer chinesischen Familie betrieben. Restaurants mit verschiedenen Küchen gibt es auch. Wenige sind geöffnet. Und als Sommer-Highlight im touristischen Angebot sehen wir Werbung für Bootsfahrten zur russischen Grenze.

Wir erreichen die russischen Grenze im Auto. Mal schauen, was drüben los ist. Wo vor wenigen Jahren noch rege Bewegungen in beide Richtungen stattfanden, ist jetzt Stillstand. Durch die Grenzanlagen hindurch ist auf der anderen Seite kein Leben zu erkennen. Diesseits stehen ein paar Autos. Ob sie nur parken oder warten, dass sich das Tor in eine andere Welt öffnet, erfahren wir nicht. Der kleine Andenkenladen am Straßenrand hat seine besten Zeiten jedenfalls hinter sich.

Mit Russland im Rückspiegel haben wir jetzt nur noch ein Ziel vor Augen: Heimat. Zwischen der und uns liegen allerdings noch deutlich mehr als 2500 Kilometer. Bis hierhin haben wir zwei Wochen gebraucht. Zurück wollen wir es in drei Tagen schaffen.

Raus aus Norwegen und rein nach Finnland. Anhalten? Passkontrolle? Zoll? Fehlanzeige. Freiheit ist was echt Schönes, wenn man sie genießen kann.

Vor uns jetzt ganz viel Lappland. Wald, soweit das Auge reicht. Wenig Bodenerhebungen. Lange, gut ausgebaute Straßen. Es geht gut voran. Und schon zeigt uns ein Schild – mitten auf einer Brücke – an: wir erreichen Schweden.

Anhalten? Passkontrolle? Zoll? Fehlanzeige. Freiheit ist was echt Schönes, wenn ... ach ja, das hatten wir schon.

Ab jetzt mischt sich viel Wasser zwischen die Wälder. Auch hier Platz ohne Ende. Wie hält unsereiner das überhaupt noch aus in Berlin, wenn der pure Seelenfrieden nur eine Autoreise weit entfernt ist.

Schweden zieht sich. Zwei der drei folgenden Übernachtungen verbringen wir im Land von Pippi Langstrumpf und IKEA.

Fahren. Tanken. Essen To Go. Fahren. Tanken. Kaffee auf die Hand. Hotel beziehen. Route planen. Eine warme Mahlzeit - mit Besteck und Teller. Kötterbullar und Zimtschnecken landen nicht darauf.

Irgendwann ist auch Schweden zu Ende. Hinter Malmö cruisen wir über die legendäre Öresundbrücke, die weltweit längste Schrägseilbrücke für kombinierten Straßen- und Eisenbahnverkehr. Während der knapp acht Kilometer langen Fahrt überqueren wir die Landesgrenze nach Dänemark. Und merken es nicht einmal. Anhalten? Passkontrolle? Zoll? - Richtig! - Fehlanzeige.

Irgendwann wird Opa seinen Enkeln von der Zeit erzählen, als freie Menschen über offene Grenzen reisen konnten. Und keiner wird es ihm dann abnehmen. Traurig. Traurig. Die Zukunft versprach schon mal Besseres.

Letzte Übernachtung bei Rodby. Morgen geht es mit der Fähre nach Puttgarden auf der deutschen Insel Fehmarn. Abschiedsdinner. Pommes. Pizza. Pils. Am Abend eine letzte müde Erinnerung an die wirkliche Mitternachtssonne.

Ab jetzt ist alles „das letzte Mal“. Aufbruch. Fähre. Hafen. Autobahn. Martin steigt in Lübeck in den Zug nach Hause. Ich habe noch ein Stück vor mir. Bald sind wir wieder zu Hause. Viel später erst werden wir realisieren, was wir da gerade gemacht haben. Und das in unserem Alter!

Von den 8.108 Kilometern - Berlin-Kirkenes-Berlin - ist Martin gut 7.000 gefahren. Rechtzeitig, bevor seine Hände mit dem Lenkrad verwachsen, endet der Ausflug. Mensch Martin - Danke!

Zwei alte Männer auf großer Fahrt. Zart und zerbrechlich traten sie die Reise an. Gestählt und gefestigt kehrten sie Heim.

Alte Männer? Am Arsch!

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Kommentare

Kommentar von Klaus |

Tolle stories - tolle Bilder. Aber mir wäre die Ecke einfach zu kalt...

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