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Gipfeltreffen

von (Kommentare: 2)

Es gibt viele gute Gründe, in die Schweiz zu reisen. Für mich gab es diesmal nur einen. Der war direkt aus Kalifornien eingeflogen. Mein Freund und Geschäftspartner Mike war zu einem Kurzbesuch in seine alte Heimat gekommen. Wir hatten uns seit Januar nicht gesehen. Normalerweise wären wir uns in diesem Zeitraum 3 bis 4 Mal begegnet, wechselweise in Kalifornien oder in Europa. Aber was ist zurzeit noch normal?

Auch weiterhin ist es mir nicht möglich, ohne weiteres in die USA zu reisen. Meine Hollywoodpläne sind damit wieder in weite Ferne gerückt, aber auch die persönlichen Kontakte leiden unter den Reisebeschränkungen. Vieles ist zwar über Telekommunikation möglich, aber eben nicht alles. Und selbst die tollste Videotechnik wird immer nur ein müder Abklatsch bleiben im Vergleich zu persönlichen Treffen und gemeinsamen Unternehmungen.

Die Zeit ist kurz: Mike fliegt in fünf Tagen zurück. Deshalb verliert er nach meiner Ankunft am Flughafen in Zürich keine Zeit. „Pack ein Paar Turnschuhe ein“, hatte er mir vorher geraten. „Es geht auf den Berg“. Ich erinnerte ihn an mein Alter und daran, dass meine besten Zeiten für Gipfelstürmereien hinter mir liegen. Die Turnschuhe packe ich vorsichtshalber trotzdem ein.

Mike hat mir schon einiges in der Schweiz gezeigt; und so bin ich auch diesmal neugierig und gespannt, wohin uns mein eidgenössischer Freund diesmal führen wird. Direkt vom Airport aus geht es ins Appenzeller Land, in ein Szenario wie aus einem Reiseprospekt für die Schweiz. Nirgendwo stehen dermaßen dekorative Kühe dermaßen dekorativ in einer dermaßen dekorativen Kulisse. Einfach nur Schweiz pur. Ich rechne jeden Moment damit, dass irgendwo am Straßenrand Heidi steht und den Daumen raushält.

Wir erreichen den Ort Schwende, etwa 840 Meter über dem Meeresspiegel gelegen. Unser Ziel ist der Seealpsee, den wir von hier zu Fuß erreichen wollen. Er liegt auf ca. 1140 Metern über dem Meeresspiegel. Das sind 300 Höhenmeter Unterschied und knapp 2,5 Kilometer Entfernung vom Parkplatz aus. Der Wegweiser zum See gibt die Entfernung mit 50 Minuten an. Kein Problem für einen gut trainierten über 60-Jährigen, denkt der gut trainierte über 60-Jährige und ist nach 30 Minuten so nassgeschwitzt wie nach seinem letzten Saunagang mit Aufguss.

Die Steigung ist mörderisch, die Schritte klein. Am Ende wartet eine Brotzeit mit Blick auf eine riesige Bergkulissen-Fototapete. Ach nee, das ist gar keine Tapete. In Natura breitet sich vor uns das feinste Alpenpanorama aus. In der Distanz der Gipfel des Säntis, der in seiner Form und mit seinen 2500 Metern Gipfelhöhe wohl gerne mit dem Matterhorn verwechselt werden will.

Zurück geht es auf demselben Weg. Diesmal nur bergab. Das ist es ein Klacks, denkt der Chronist und begeht den zweiten schweren Denkfehler des Tages, bei dem er immerhin lernt, dass Lebenserfahrung ein sehr relativer Begriff sein kann.

Schweiß fließt nun keiner mehr, dafür fühlen sich nach fünf Minuten die Kniescheiben an, als wollten sie sich am liebsten katapultartig vom Rest des Körpers verabschieden und UFO-gleich über die malerische Kulisse hinweg gen Tal fliegen. Sekundiert werden sie dabei von den Oberschenkeln, die nur noch aus brennenden Schmerzen bestehen. Am Parkplatz fühlen sich die Beine des fitten Sechzigers wie in Cola aufgelöste Gummibärchen an. Er taumelt die letzten Meter aufs Auto zu. Noch fünf Tage später auf dem Heimweg wird die Beinmuskulatur Übersäuerung ans Stammhirn melden.

 

Von Appenzell geht es nach Zürich zurück; und zwar mitten rein. Das Hotel Widder befindet sich in der malerischen Altstadt. Dort beziehen wir unser bescheidenes Quartier, aus dem wir am Ende gar nicht mehr weg wollen. Hier trifft die traditionelle Schweiz in mustergültiger Weise auf die Moderne. Geschmackvoll, durchdacht und gepflegt kann ich in der Woche nichts entdecken, was irgendwie meine Augen beleidigt. Es scheint also kein Naturgesetz zu sein, dass Innenstädte weltweit durch Geschmacklosigkeiten und rüden Kommerz verhunzt werden müssen. Das vielfältige, kulinarische Angebot und die Qualität des Essens sind in dieser Stadt erste Sahne und runden meine guten Eindrücke von Zürich ab.

Der Blick von der Dachterrasse über die nächtliche Stadt ist am Ende des Tages beruhigender als jedes Absacker-Getränk an einer Bar. Jedesmal, wenn ich hier zu Gast bin, denke ich „An Zürich könnte ich mich gewöhnen“ - und vergesse dabei leider, dass sie nach Tokio die teuerste Stadt der Welt sein soll. Mit meinen Erinnerungen an New Yorker Hotelpreise deckt sich das zwar nicht ganz und mit Mikes Erinnerungen an das Preisniveau in Kalifornien auch nicht. Als armer Berliner darf man hier trotzdem nur gucken und nichts anfassen.

 

Am Folgetag geht es weiter hinauf. Unser Ziel liegt diesmal 3500 Meter über dem Meeresspiegel. Das werden wir auf keinen Fall zu Fuß erledigen, sondern per Reifen, Schiene und Zahnrad. Zunächst fahren wir nach Interlaken. Der kleine Ort liegt im Berner Oberland und ist eines der Epizentren des Schweizer Tourismus.

Am Fuße des alpinen Dreigestirns von Eiger, Mönch und Jungfrau werden alle Arten von Outdoor- und Freizeitaktivität angeboten. Wem das unaufgeregte Genießen der Natur beim Spazierengehen oder Wandern nicht genügt, kann sich unter anderem mit Fallschirmspringen, Gleitschirmfliegen, Canyoning, River Rafting, Bungeejumping und Kajakfahren vergnügen.

Uns reicht es, ganz gepflegt und entspannt einfach nur rauf und wieder runter zu fahren. Am Jungfraujoch, als „Top of Europe“ angepriesen, wollen wir nach der anderthalbstündigen Fahrt bergauf pausieren und nach einem kleinen Snack genauso lange wieder bergab fahren. Zweimal müssen wir dabei jeweils die Bahn wechseln. Die perfekt ausgebaute Infrastruktur und der reibungslose Bahnverkehr lassen ahnen, was hier los ist, wenn hier was los ist. Wie viele andere musste auch der Schweizer Fremdenverkehr im Sommer 2020 ohne den Besucheransturm aus Übersee auskommen.

Seit 1912 kommt man mit der Jungfraubahn ans Joch heran. Und seitdem gibt es dort oben auch Gastronomie. Der verhangene Himmel gönnt uns nicht den Postkartenblick auf die unvergleichliche Kulisse, mit der überall geworben wird. Dieser Umstand und die Außentemperatur - um den Nullpunkt - sind gute Gründe, den Rest der Zeit im Restaurant zu verbringen. Dort sinnieren wir bei Rösti und Kaffee, wie die Menschen hier vor über 100 Jahren nur mit Brot und Speck in der Beintasche und einer Feldflasche mit Tee am Gürtel im Berg hingen und sich in der dünnen Luft den Allerwertesten abgefroren haben.

Zwischen Hauptgang und Nachtisch kann man da schon ins Grübeln kommen. Soll man sich über diese unübersehbare Dekadenz echauffieren oder würdigt man mit der eigenen Anwesenheit nicht doch die hohe Ingenieurskunst und den Schweiß der harten körperlichen Arbeit, die all das erst möglich gemacht haben? Muss man bei aller Naturverbundenheit ein schlechtes Gewissen haben, wenn man den technischen Fortschritt nicht nur nutzt, sondern auch noch genießen kann? Vielleicht sollte ich mal einen Therapeuten dazu befragen. Oder meine einfühlsame Gemahlin. Oder Kochmaus.

 

Obwohl Einiges in der Schweiz beschaulicher und langsamer zu gehen scheint, vergeht hier die Zeit trotzdem nicht langsamer als anderswo. Leider. Hinzu kommt mit zunehmendem Alter das ständige Gefühl, dass alles schon wieder vorbei ist, kaum dass es begonnen hat.

Am letzten Abend sitzen wir - ein Deutscher, der sich Zürich als Wohnort vorstellen kann, und ein Schweizer, der sein Glück in Kalifornien gefunden hat - noch einmal zusammen und wissen nicht, ob, wann und wo unser nächstes Treffen stattfinden wird. Bis dahin konservieren wir die Erinnerungen an diesen schönen Trip und bleiben weiterhin über Ozeane und Kontinente regelmäßig in Verbindung. Der modernen Technik sei Dank.

 

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Kommentare

Kommentar von Dieter Buhrau |

Pjotr, das ist wirklich sehr schade mit der Sicht die Ihr nicht hattet. Hatte das Vergnügen mit Birgit und werde es nie vergessen, aber Du weißt ja nun wie man dort erneut hinkommt. Wenn die Dohlen schon ihre Daunenjacken anhaben, dann ist es wirklich schattig gewesen

Kommentar von Klaus |

Toller Reisebericht! Herrliche Landschaft! - Fast wie in Oberbayern ...

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