Geschichte(n) vor der Haustür
von Simone Keil (Kommentare: 0)
Der letzte Urlaub liegt gefühlt Jahre zurück. Und wohin mit dem riesigen Resturlaub von zwei Tagen? Die Rote quengelt und will Bildungsurlaub machen. Ohne Fliegen, die Heimatadresse in Sichtweite. Der Graue zuckt die Schultern und brummelt sein Einverständnis. So schnell kann er nicht gucken, wie die Rote einen perfekten kleinen Reiseplan erstellt hat.
Station 1: Das Bauhaus in Dessau
Die paar Kilometer die Autobahn runter sind schnell erledigt. Um 11.00 Uhr haben wir bereits eine Führung im Bauhaus-Gebäude. Wir bestaunen das Haus, welches seinerzeit in den 20er Jahren so sensationell und speziell war. Zu der Zeit, als es gebaut wurde, kannte man es nicht, dass ein Gebäude von allen Seiten gleichwertig und sehenswert war. Licht von überall. Riesige Fenster, große Glasfronten in den Treppenhäusern. Üblicherweise war die Vorderfront repräsentativ und die Personaleingänge über den Hof oder von hinten, nicht sichtbar und ganz und gar unwichtig. Was uns heute gut gefällt und bei Architekten durchaus üblich ist, war in den Zeiten der Bauhaus-Schule eine Sensation: Ein heller Kasten aus Glas und Beton, keine Verzierungen, keine Schnörkel. Hier wurde gearbeitet und gelebt gleichermaßen, die Räume wurden geöffnet, nicht verschlossen. Selbst bei den Lampen hörte man auf, das Kerzenlicht zu imitieren, die verzierten nicht die Decke, sondern erfüllen ihren Zweck: Helligkeit, so viel nur geht! Uns gefällt es, wir sind begeistert. Die Möbel der damaligen Zeit sind so, wie ich sie mag: Einfach, gerade, zweckmäßig. Leicht zu verschieben oder anzuheben. Heute zahlt man ein Vermögen für echte Stücke, und in manchem Möbelhaus findet man Ähnlichkeiten von dem, was das Bauhaus „erfunden“ hat.
Wir fahren weiter durch Dessau zum Bauhaus-Museum. Ein Haus wie von den Bauhaus-Meistern erfunden, aber erst vor ein paar Jahren gebaut (eröffnet 2019): Ein Kasten komplett aus Glas. Hier erwartet uns eine Ausstellung von interessanten Stücken, wir sind hingerissen von Möbeln und Gebrauchsgegenständen des Alltags, aber auch von Zeichnungen und Grafiken der großen Meister Kandinsky, Feininger und Gropius. Der Graue begeistert sich im Museumshop über Osterhasen mit Bauhaus-Papier und rechnet gleich wieder den Kilopreis aus. Den Preis der Schokolade, nicht den des künstlerischen Einzelstückes.
Am Ende des Nachmittages fahren wir zu den Meisterhäusern, die in einer ruhigen Gegend Dessaus für die Öffentlichkeit zu besichtigen sind. Erstaunt gehen wir durch die Wohnungen der großen Lehrer und wundern uns, wie winzig klein deren Lebensräume waren. In meiner Plattenbauwohnung hatte ich größere Zimmer. Und Architektur hatte bei den Plattenbauten wohl keine Rolle gespielt, sondern nur Zweckmäßigkeit und Schnelligkeit beim Bau. Durchaus angetan und begeistert von den Ideen, die vor 100 Jahren sensationell waren und heutzutage zum architektonischen Alltag gehören, beenden wir den ersten Tag unserer Bildungstour. Wenn ich mir ein Haus bauen würde, dann würde ich ganz sicher beim Bauhaus schauen. Und damit meine ich nicht den gleichnamigen Baumarkt.
Eine Reise wert: https://bauhaus-dessau.de
Station 2: Die Himmelsscheibe von Nebra
Eigentlich habe ich erst im Rahmen der Vorbereitungen auf unsere kleine Kurzreise überhaupt mitbekommen, dass die echte „Himmelsscheibe“ im Museum in Halle liegt. Was mich hingegen interessiert hatte, war das spektakuläre Museum „Die Arche“, das man an den Fundort der Himmelsscheibe in dem kleinen Ort Nebra in Sachsen-Anhalt gebaut hatte. Wie ein überdimensionales goldenes UFO, das auf einer Wiese gelandet ist. Das wollte ich unbedingt sehen.
Und dann passierte seltsames: Die Geschichte um die Himmelsscheibe von Nebra nahm uns so gefangen, dass der Graue wiederholt seinen Lieblingssatz sagte: „Das kannste Dir nicht ausdenken!“ und fassungslos den Kopf schüttelte. Diese Geschichte geht so: Im Jahre 1999 stolperten zwei seltsame Typen mit Metalldetektoren durch den Wald auf dem Mittelberg bei Nebra. Als die Geräte anschlugen, hackten sie mit einer Spitzhake den Waldboden auf und zerrten ein paar verdreckte Gegenstände aus Metall aus der Erde. Eine schwere Scheibe hielten sie für einen alten Topfdeckel und warfen das Teil erstmal zur Seite. Die Himmelsscheibe von Nebra, 3600 Jahre alt und aus der Bronzezeit stammend, war gefunden worden. Auf ihr war die älteste Darstellung des Himmels, des Mondes und der Sterne zu sehen, die je gefunden wurde. Die zwei Deppen verkauften ihren Fund, ein paar Schwerter und Meißel aus der Bronzezeit, später für 31.000 Mark, der Käufer nahm die verdreckte Himmelsscheibe nur mit, weil sie zum Fund gehörte. Keiner hatte Ahnung, was das war. Die Himmelsscheibe gelangte schließlich, nach einer längeren Odyssee, die einem beispiellosen Kunstkrimi gleicht, bis ins Landesmuseum für Frühgeschichte Halle, wo sie heute ihr Zuhause gefunden hat.
In Nebra also, wo wir atemlos die spannende Geschichte der Himmelsscheibe verfolgten, konnten wir die Scheibe selbst gar nicht sehen. Wir ärgerten uns kein bisschen, denn das wunderbare und spektakuläre Bauwerk des Besucherzentrums entschädigte uns in jeder Hinsicht. Bei einem Spaziergang durch den Wald bis zum sehr speziellen Aussichtsturm auf dem Mittelberg folgen wir der Geschichte. Hier haben vor 4000 Jahren Menschen gelebt, die an den Sternen und dem Mond den Zeitpunkt für Aussaat und Ernte ablesen konnten. Sie haben ihr Wissen auf eine Bronzescheibe verewigt, ohne ein einziges Wort – und wir können Jahrtausende später die goldenen Zeichen verstehen, die die Zeit überdauert haben. Das kann sich keiner ausdenken, sagt der Graue. Geschichte eben.
Unbedingt eine Reise wert: https://www.himmelsscheibe-erleben.de
Station 3: Panorama-Museum in Bad-Frankenhausen
Die letzte Station unseres Reiseplanes kenne ich schon. Hier war ich früher bereits mehrmals und habe mir das riesige Gemälde von Werner Tübke angeschaut. Ich präsentiere es dem Grauen als ein liebgewordenes Stück meiner Ost-Geschichte, als hätte ich daran mitgearbeitet. Der Graue ist in der Tat sehr beeindruckt, als wir den abgedunkelten Raum betreten und das überdimensionale Werk „Frühbürgerliche Revolution in Deutschland“ uns fast verschluckt. Auch hier faszinieren und interessieren uns die Geschichten um die Geschichte: Als die Regierung der DDR Anfang der 70-er Jahre beschloss, hier an der historischen Stelle eine Gedenkstätte für die Bauernkriege zu errichten, konnte sich wahrscheinlich keiner je vorstellen, dass hier ein Bild entstehen wird, das sich jeglicher festgelegter Interpretation für alle Zeit entziehen wird. Tübke, damals Rektor der weltweit bekannten Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst, übernimmt den Auftrag und recherchiert drei Jahre lang. In seinem einseitigen Vertragszusatz die „Bedingungen für Wandmalerei Frankenhausen“, die er sich auserbeten hat: „… es wird mir freie Hand gelassen für die Ausführung, es redet niemand rein.“ Oder „… es wird nicht pädagogisch als Illustration von Geschichte konzipiert.“ Was über mehrere Jahre und mit einer Handvoll auserwählter Gefährten auf die Leinwand kam, ist auch heute mit Worten nicht zu beschreiben. Man muss es gesehen haben.
In einem Film sehen wir, wie Tübke den letzten Pinselstrich auf das Gemälde setzt, nach über einem Jahrzehnt Arbeit bis an die Grenzen jeglicher Belastbarkeit.
Der Filmende fragt ihn: „Wie fühlen Sie sich jetzt?“ Tübke: „Ich habe ja keine Gefühle mehr….“
1989 wird das Museum eröffnet und die Öffentlichkeit kann das Gemälde in Besitz nehmen. Der Staat, der das Bild in Auftrag gegeben hat, ist am Ende seiner Existenz. Das Bild jedoch, das riesige Wunderwerk deutscher Geschichte, 14 Meter hoch und 123 Meter lang, ist von da an aktueller denn je. Seine Interpretation ist so frei wie die Gedanken, die der Künstler hineingemalt hat. Man hat ihm freie Hand gelassen. Nun lässt sein Bild uns freie Hand, etwas zu sehen und unseren eigenen Gedanken nachzugrübeln.
Am Ende unserer Reise durch die deutsche Geschichte machen wir einen kurzen Halt am Kyffhäuserdenkmal, wo ich mich früher als Kind vor dem bärtigen Barbarossa gegruselt habe, fahren durch Sondershausen, wo ich schöne Sommer bei meinen Großeltern verbracht habe, und fahren schließlich an den silbern glänzenden, aber immer noch rauchenden Schornsteinen von Leuna vorbei, wo ich einige Jahre gelernt und gearbeitet habe. Der Ausflug in die Geschichte Deutschlands streift hier meine persönliche Geschichte.
Ich erzähle dem Grauen von früher, vom Garten und dem Hühnerstall hinter dem Haus von Oma und Opa, von Ausflügen mit der Feriengruppe in die Barbarossa-Höhle, von dem nie vergessenen Geruch der VEB Leuna-Werke -- und der Graue lächelt milde und drückt meine Hand: Das sind mal wieder Geschichten, die kann man sich nicht ausdenken.
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