Simenon: Brief an meine Mutter
von Peter Schäfer (Kommentare: 1)
Brief an meine Mutter
„Meine liebe Mama,
es ist ungefähr dreieinhalb Jahre her, dass du im Alter von einundneunzig Jahren gestorben bist, und vielleicht beginne ich dich jetzt erst kennenzulernen.“
So beginnt der Autor den Brief an seine Mutter. Er ist selbst schon fast 70 und schaut auf ein schaffens- und vor allem erfolgreiches Leben zurück. Als Schriftsteller ist er eine internationale Berühmtheit, ein wohlhabender Mann von Welt.
Und obwohl er alles erreicht zu haben scheint, macht er sich auf den Weg zurück, in seine eigene Vergangenheit und Herkunft. Er versucht, die Frau, die ihm das Leben geschenkt hat, kennenzulernen und zu begreifen. Damit beginnt er ausgerechnet an ihrem Sterbebett und kommt auch nach ihrer Beisetzung damit nicht zum Ende. Es ist eine späte Suche, die im Verlaufe des Briefes zu einer Auseinandersetzung zwischen Sohn und Mutter wird. Ständig wirft der Autor Fragen auf, die ihr gegenseitiges Verhältnis betreffen. Handlungen und Entscheidungen der Mutter, die sie für sich selbst getroffen hat, kann ihr Sohn nur mit Mühe nachvollziehen.
Er versucht, ihr Weltbild zu ergründen, ihren Glauben und die Schlussfolgerungen, die sie daraus gezogen hat. Denn so viel wird in diesem Brief auch klar: egal, wie weit Mutter und Sohn voneinander entfernt waren, haben sie doch immer in das Leben des anderen eingewirkt - durch Handlungen oder Unterlassungen.
„Ich weiß nicht, ob du mich jemals auf den Schoß genommen hast. Jedenfalls hat es keine Spuren in meiner Erinnerung hinterlassen, was bedeutet, dass es nicht oft passiert ist.“
Die emotionale Distanz zwischen Beiden zieht sich durch den gesamten Brief; und dennoch liegt dem eine Zärtlichkeit zugrunde, die von einer ungestillten Sehnsucht nach Liebe erfüllt ist, einem Urgefühl der Zugehörigkeit. Mutter und Sohn scheinen hier ein gemeinsames Defizit zu haben. Dabei wirft Simenon seiner Mutter nicht vor, dass sie nicht in der Lage war, die mütterliche Wärme auszustrahlen, nach der sich ihre Kinder wohl sehnten.
„Du warst das dreizehnte von dreizehn Kindern. Als du zur Welt kamst, machte dein Vater Bankrott. Du warst fünf Jahre alt, als er starb. So fing dein Leben an.“
Später erwähnt er, dass wohl mit ihrer eigenen Geburt die Angst bereits zu ihrem ständigen Begleiter wurde, der sie auf eigene Art und Weise zu begegnen versuchte. Das stieß nicht immer auf Zustimmung oder Gegenliebe ihrer Mitmenschen.
„Und mit deinem matten, undefinierbaren Lächeln hattest du zu kämpfen beschlossen.“
Und so war es wohl, das Leben der Mutter: ein Kampf um Unabhängigkeit und Sicherheit, während der Sohn einen Durchmarsch zu Ruhm und Reichtum vollzog.
Dabei verliert Simenon seine Mutter und ihre Existenz nie aus den Augen, versucht ihr beizustehen, wo er kann. Aber „nehmen“ scheint für die resolute Frau immer auch mit dem Bewusstsein von „Schuld“ verbunden zu sein. Jedenfalls bleibt sie ihrem Sohn am Ende nichts „schuldig“. Zuwendungen und Geld lehnt sie ab oder zahlt es zurück.
Das ganze Werk ist gleichsam eine Ansammlung von wundervoll geschriebenen, schlichten und ergreifenden Sätzen, von denen einige das Herz des Lesers treffen wie ein Hammer. Simenon ist in all seinen Werken ein feiner Beobachter menschlichen Miteinanders, mit einem mikroskopisch genauen Blick für die kleinsten Details. Im Brief an seine Mutter wächst er damit über sich hinaus. Hier verschmilzt der Erzähler untrennbar mit dem Erzählten. Einiges davon ist herzzerreißend.
Der „Brief an meine Mutter“ geht der Frage nach „Was ist der Mensch? Wer ist mein Nächster?“ Simenon kommt zu dem Schluss: „Heute sucht die Ethnologie die Spuren jener frühen Menschen zu ergründen, die ja schließlich unsere Ahnen waren; und in den Laboratorien der ganzen Welt bemühen sich die Biologen, den heutigen Menschen zu erforschen. Trotzdem kennen wir die Leute nicht, die Tür an Tür mit uns wohnen, denen wir Tag für Tag auf der Straße begegnen oder mit denen wir Seite an Seite arbeiten.“
Der Brief ist eine menschliche Bilanz. Nüchtern - aber nicht ohne Gefühl. Die sachliche Distanz zwischen Mutter und Sohn ist am Ende nicht größer als am Anfang. Sie hat sich aber auch nicht verringert.
„Ich habe meine Kindheit und meine Jugendzeit mit dir im gleichen Haus verlebt, aber als ich dich mit neunzehn Jahren verließ, um nach Paris zu gehen, warst du für mich noch immer eine Fremde.“
Daran, so scheint es, hat sich 50 Jahre später und mit dem Tod der Mutter nichts geändert. Der Sohn aber hat mit den letzten Worten, die seine Mutter nicht mehr erreichten, seinen eigenen Frieden gefunden.
"Brief an meine Mutter“ Autor: Georges Simenon; 141 Seiten. Erschienen 1974.
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Kommentare
Kommentar von Die Kleene |
Danke für den Tipp. Kommt in meinen Warenkorb.
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