Die Federleichten
von Peter Schäfer (Kommentare: 4)
Älter werden ist verbunden mit Beschwernissen.
Ein langwährendes Leben bringt es mit sich, dass nichts leichter wird. Der Körper gibt einem täglich zu verstehen, dass nun auch mal genug ist mit dieser oder jener Betätigung. Im besten Fall knirschen die Knochen nur. Im schlimmsten schmerzen sie.
So wie die Jahresringe eines Baumes legen sich die Erlebnisse eines Menschenlebens auf der Seele und im Gedächtnis ab. Stimmungsmäßig kommt einem das Glas immer öfter halb leer statt halb voll vor. Das Gemüt neigt dazu, dem Vergangenen nachzutrauern, dem nicht Wiederkehrbaren.
Was Zukunft betrifft, beginnt man auf Sicht zu fahren.
Zu zeigen, dass es ein lebenswertes Leben nach dem 60. Geburtstag geben kann, war eine Absicht, als wir 2019 „rotundgrau.de“ aus der Taufe hoben. Wir wollten aufschreiben und zeigen, was uns selbst und die Menschen, denen wir begegnen, bewegt, wenn sich die Sonne in diesem Lebensabschnitt immer mehr gen Westen neigt.
Der technische Fortschritt bringt es in zunehmend ausgefeilter Weise mit sich, dass wir der physikalischen Schwerkraft bis ins hohe Alter etwas entgegensetzen können. Rollatoren, künstliche Hüftgelenke, Autos, Schiffe oder Flugzeuge bewahren uns vor einer zunehmenden Erstarrung und stemmen sich damit gegen die biologische Programmierung unserer Körper.
Im Gegensatz zu früher sind die Menschen heute bis ins höchste Alter mobil und unterwegs: zu Land, zu Wasser und in der Luft. Der moderne Mensch kann sich glücklich schätzen, dass die individuelle Mobilität - und damit seine Selbstbestimmtheit - einen großen Sprung nach vorne gemacht haben.
Komplizierter wird es bei den beschwerenden Lasten, die wir unsichtbar mit uns herumtragen - genauer gesagt: in uns. Für die Seele gibt es (noch) keine Prothesen. Wenn man von den pharmazeutischen Versuchen in diese Richtung einmal absieht. Pillen halten aber bestenfalls die Symptome in Schach. Mit den eigentlichen Ursachen umzugehen und klarzukommen, sie zu bekämpfen oder zu umarmen, liegt allein in unserer Hand.
Schwermut, Trübsal oder Melancholie sind keine Sparringspartner, die nur mit uns spielen wollen. Es sind knallharte Gegner, die ein Ziel verfolgen: uns gnadenlos auf die Bretter zu schicken.
Mit jedem Geburtstag lauert eine neue Beschwerung hinter der nächsten Ecke, die droht, unseren (Lebens)Mut in ein Stück Blei zu verwandeln, das uns tiefer in die Dunkelheit zieht.
Niemand kann sich dieser Gefahr entziehen. Wie jeder einzelne aber damit umgeht, macht den Unterschied zwischen Angst und Zuversicht. Zwischen halb voll und halb leer.
Zeit meines Lebens haben mich Menschen begeistert, die das Unvermeidbare nicht als reines Übel, sondern auch als Chance verstehen. Menschen, die sich nicht gegen das faktisch Unveränderbare stellen, sondern versuchen, ihr Dasein mit den gegebenen Umständen in Einklang zu bringen.
Das zu machen, was möglich ist.
Es dann zu machen, wenn es möglich ist.
Ab einem bestimmten Alter ist der geeignetste Zeitpunkt dafür immer: SOFORT.
Viele kommen erst nach einem jahrzehntelangen Berufs- und Familienalltag dazu, sich einer alten oder verdrängten Leidenschaft zu widmen. Lang gehegte Träume und Wünsche zu verwirklichen.
Reisen, Musizieren, Kochen, Gärtnern, eine Fremdsprache erlernen, Malen, Fotografieren, Studieren und Schreiben mögen dabei die gängigsten Beschäftigungen sein, aber bei weitem nicht die einzigen.
Das eigene Lebensalter ist die schlechteste Entschuldigung, mit nichts (mehr) anzufangen. Jeder kann etwas finden, um vital zu bleiben, um aktiv am Leben teilzuhaben. Ich glaube sehr, dass sich dabei vor allem drei Faktoren positiv auf die individuelle Befindlichkeit auswirken:
1. Neugier (wachhalten)
2. Herausforderungen (annehmen)
3. Gemeinschaft (suchen und pflegen)
Im besten Fall ergänzen sich alle drei und befeuern sich gegenseitig.
Wie so etwas in der Praxis aussehen kann, zeigt ein Beispiel aus der Lebenswirklichkeit in unserem unmittelbaren Umfeld. Es geht um eine Frau, die durch Ehelichung der Roten zu meiner Schwiegermutter wurde: Dagmar Mayer.
Müritzer Schreibfedern
Nach ihrem Umzug in die Stadt Waren an der Müritz vor zwei Jahren, gründete sie dort eine Schreibgruppe, die „Müritzer Schreibfedern“. Da hatte sie den 80. Geburtstag bereits hinter sich.
Dabei war ihr Aufruf per Kleinanzeige in der lokalen Presse nur der pragmatische Versuch, in der neuen Heimat Anschluss an Menschen mit ähnlichen Interessen zu finden. Mit der darauffolgenden Resonanz, dem überwältigenden Interesse und solch großem Zuspruch auf ihre kleine Annonce hatte sie nicht gerechnet.
Seitdem treffen sich siebzehn Damen und ein Herr im besten Alter einmal im Monat, um gemeinsam zu schreiben. Einmal im Monat stellen sie ihre Arbeit im Rahmen öffentlicher Lesungen einem Publikum vor.
Sie bewegen andere Menschen nicht allein durch ihre Texte, sondern auch durch ihr Vorbild als eine lebendige, fidele und unternehmungslustige Gemeinschaft. Denn genau dazu haben sich die Müritzer Schreibfedern entwickelt.
Ihr Wirken hat längst Kreise gezogen über den Gründungs- und Versammlungsort hinweg, dem „Schmetterlingshaus“ in Waren. Die lokale Presse berichtet wohlwollend. Die Lesungen sind gefragt und ausgebucht.
Der vorläufige Höhepunkt ist die Veröffentlichung ihres ersten Buches „Lebenswege – Geschichten aus der Heimat“, eine Sammlung von Geschichten, Erinnerungen und Gedichten aus über 80 Jahren. Es ist das Ergebnis kollektiver Arbeit, bei der jede der Schreibfedern mit ihrer Einzigartigkeit und individuellen Erfahrung beigetragen hat.
Wer das Vergnügen hat, die Gruppe einmal live mitzuerleben, versteht, dass sie inzwischen nicht nur für die Stadt Waren eine Bereicherung sind, sondern zugleich ein Vorbild bieten für Menschen jeden Alters.
Was zwei Jahre nach der Gründung nun so federleicht aussieht und so gewachsen daherkommt, ist nicht bloß das Ergebnis, sondern verdiente Belohnung für die Disziplin und Leidenschaft der gesamten Gruppe über die Zeit.
Die Gründerin kann jedenfalls stolz und zufrieden sein. Sie hatte nie im Kopf, was jetzt passiert ist: Eigentlich wollte sie nur ihre eigene Situation etwas aufpeppen. Ihr scheinbar kleiner Schritt hat Großes bewirkt, weit über die einfache Idee hinaus.
Dagmar Mayer bezeichnet die Mitglieder der Schreibgruppe liebevoll als ihre „Federn“. Eine sehr treffende Verkürzung. Mit einer Feder kann man schreiben. Oder jemand anderen kitzeln. Viele Federn aber werden zu Flügeln. Und mit denen lässt es sich vortrefflich fliegen.
Nicht nur in Gedanken.
Kommentare
Kommentar von Brigitte |
Ich bin eine von den Federn.Habe mich in die Gruppe begeben, um an meinen schon länger verfassten Gedichten zu feilen. Etwas zu lernen.Ich bin 75. An Kurzgeschichten habe ich nicht gedacht. Aber es dauerte nicht lange, da flossen sie mir aus der besagten Feder. Dagmar gab Hilfestellung, auch ein kleiner Schreibkurs lies mich selbst Schwachstellen erkennen. Das Beste aber, es kamen aus mir Erlebnisse quasi aus dem Bauch hoch, die für mein Leben , meine Entwicklung, wichtig waren. Sie noch mal zu beleuchten aus der heutigen Perspektive war für mich gut und wichtig. Für den Zuhörer vielleicht auch eine interessante Geschichte.Doch, wenn hier von "federleicht" die Rede war, mit nichten. Wie überall, der Anfang war schwer, besonders das Sichtrauen. Ich kann bestätigen, es ist auch Therapie. Wir Schreibfedern sind, überspitzt gesagt, eine Selbsthilfegruppe, in der es grossen Spass macht. Der Motor ist und bleibt Dagmar Mayer. Ein leistungsfähiger Motor!
Kommentar von Peter |
Liebe Brigitte,
das ist ja generell die Kunst im Leben: das Schwierige leicht aussehen zu lassen. Und das ist Euch gelungen. Ebenso wie, dass Ihr eine Selbsthilfegruppe nicht wie eine Selbsthilfegruppe aussehen lasst.
Wieviel Kraft, Schweiß und vielleicht auch Tränen sich dahinter verbergen, wisst natürlich nur Ihr selbst. Für alle anderen, die Euch nur von "Aussen" wahrnehmen, seid Ihr mehr als eine Kerze, die ein wenig Licht ins Dunkel bringt. Die Schreibfedern sind ein Leuchtturm.
Kommentar von Martina |
Lieber Peter,
du hast so treffende Worte gefunden bei der Buchpräsentation. Danke dafür! Danke für deine unermüdliche Hilfe unser Erstlingswerk auf den Weg zu bringen! Danke, dass wir hier auf diesen Seiten präsent sein dürfen und du so ausführlich und liebevoll berichtest! Toll!!
Seit Mai 2023 bin ich Teil der powervollen Gemeinschaft der Müritzer Schreibfedern. Eine Fügung des Lebens, die ich um keinen Preis missen möchte. Ich hätte all diese wundervollen Menschen nicht kennengelernt. Für mich eine große handverlesene Familie. Eine Familie die stärkt und Mut macht und was zu erzählen hat. Hätte ich gewusst, dass es sich so berauschend anfühlt, eigene Texte einem Publikum zu präsentieren, hätte ich das sicher viel früher ausprobiert. Aber alles hat seine Zeit. Dass ich einen Deal mit meiner Aufregung habe vor jeder Lesung, lass ich hier mal unerwähnt.
Nicht zu überlesen, dass ich noch Schwierigkeiten habe, Buchstaben so aneinanderzureihen, dass sie den Klang einer wundervollen Melodie in sich tragen. Füllwörter und unnötiges Laber-Rhabarber schleichen sich in meine Texte. Aber ich bin dran! Das Lernen in der Gruppe macht so viel Spass! Das wird schon irgendwann.....
Ich kann nur jeden ermutigen, das Schreiben auszuprobieren.
Das schärft den Blick und macht Platz für neues Erleben! Uuuuund es hat Suchtpotenzial!!!
Kommentar von Peter |
Liebe Martina,
Du beschreibst exakt, was das Schreiben noch so reizvoll macht: es beinhaltet eine fortwährende Weiterentwicklung der eigenen Fähigkeiten mit der Gewissheit niemals einen Zustand von Perfektion zu erreichen.
Für ernsthafte Autoren bedeutet dies aber zugleich, sich niemals selbstzufrieden zurückzulehnen. Sie sind angetrieben von dem Wunsch, ihre eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten weiter auszuloten. Tag für Tag. Text für Text. Auch hier ein Paradoxon: Sucht, die sich vorteilhaft auf die Süchtigen auswirkt.
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