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Fassungslos

von (Kommentare: 2)

Ende Januar haben wir den letzten Eintrag veröffentlicht. Damals haben wir Bilanz gezogen, und nach dem Blick zurück auf das Jahr 2021 optimistisch nach vorn geschaut. Im Stillen und ganz vorsichtig haben wir uns auf die nächste Reise übers Meer gefreut. Doch dann kam alles anders.

Inzwischen ist es März. Und seit vier Wochen Krieg mitten in Europa.

Anfang Februar hatten wir unsere Schiffsreise endgültig abgesagt. Wir hatten zu viel Sorge, es bei dieser langen Anreise nicht ohne roten Test aufs Schiff zu schaffen. Wir haderten nicht mit unserem Entschluss. Etwas später war uns klar: Bei dem, was hier inmitten Europas gerade geschieht, können wir nie und nimmer eine Reise genießen.

In den ersten Tagen hörte ich Tag und Nacht das Lied „Meinst Du, die Russen wollen Krieg?“, das in einer Endlosschleife in meinem Kopf lief. Der Text von Jewtuschenko erinnerte mich daran, wie ich als Schülerin mit dem Singeclub meiner Schule in der sowjetischen Kaserne in Halle singen durfte, und die endlosen Reihen von blutjungen Soldaten vor mir hatten alle Tränen in den Augen bei unseren auf russisch vorgetragenen Liedern. Jeder einzelne von ihnen sah aus, also wäre er viel lieber zuhause, wo auch immer das sein mochte. Sie durften damals nicht mal die Kaserne verlassen.

Später, als Studentin, durfte ich für eine Reise nach Moskau. Es war Dezember, die Stadt war grau, der Rote Platz in echt viel kleiner als auf den Fotos - und es schneite wie verrückt in den Nächten. Ich erinnere ich nur verschwommen an den Besuch im Lenin-Mausoleum, das ich damals irgendwie befremdlich fand. Und dass die Leute, die wir auf den Straßen nach dem Weg fragten, unser Schul-Russisch nicht verstanden. Wir rollten übertrieben das R und kicherten, die Leute lachten sich kaputt und wussten nicht, was wir wollten.

Meinst Du, die Russen wollen Krieg? In meinem Kopf finde ich einfach keine Antwort. Wir lesen und schauen die Nachrichten, und sind fassungslos.

Ich bin extrem dünnhäutig in diesen Tagen, manchmal traue ich mich gar nicht, den Fernseher anzumachen. Während der Nachrichten halte ich die Luft an. Ich lese und lese und verstehe doch die Zusammenhänge nicht. Jeder hat eine Meinung dazu, Experten überall, die Nachrichten überschlagen sich, es wird immer schlimmer.

Ich denke an meinen Schulfreund, der inzwischen seit Jahren in St. Petersburg lebt. Was denkt er? Welche Informationen kann er bekommen? In der letzten Zeit, besonders seit Corona, hatte er das freie und unbürokratische Arbeiten in Russland gelobt, während ich die Corona-Bürokratie und das Regelwerk des Covid-Lebens zwischen Testen und Isolation in Deutschland verfluchte.

Meine Freundinnen posten Friedenstauben und abgeschriebene Statements in den sozialen Netzwerken, die ersten Karikaturen von Putin tauchen auf. Ich kann nicht drüber lachen, nicht mal im Ansatz. Ich bin wie eingefroren. Bekannte berichten im Internet von ihren Reisen, als wären nicht tausende Ukrainer mit ihren Kindern auf der Flucht. Viel Spaß beim Mitreisen, lese ich in einem Reiseblog.

Meinst Du, die Russen wollen Krieg? Ich höre das Lied in einer ganz ganz leisen Variante, von einer Frau gesungen. Wieder und wieder und wieder. München entlässt den russischen Dirigenten, Anna Netrebko tritt nicht mehr auf. Beide verweigern eine klare Stellungnahme gegen Putin - und sagen, sie wollen nur Musik machen. Kann man das? Nur Musik machen?

Ich lese sehr viel, ich schaue mir Berichte und Reportagen an. Ich gehe hart mit allen ins Gericht, und mit mir selbst. Kaum glaube ich einen Zusammenhang verstanden zu haben, kommen neue Nachrichten. Ich will pausenlos darüber reden und Fragen stellen. Ich ertrage keine 5 Minuten irgendeiner Talk-Show, in der irgendwelche Spezialisten sich in ihren düsteren Prognosen übertreffen. Ich will überhaupt nicht darüber reden. Haben wir nicht hingeschaut, als all die Vorzeichen um die Welt gingen? Sind wir immer davon ausgegangen, dass Handel und Aneinander-Verdienen den Krieg verhindert? Wo ist der gesunde Menschenverstand jetzt geblieben?

Die Frau von Altkanzler Schröder postet ein peinliches Foto aus Moskau. Ich poste gar nichts. Mir hat es komplett die Sprache verschlagen.

Mehrmals setzte ich an, die Gedanken zu Papier zu bringen. Immer wieder halte ich inne. Tag um Tag vergeht. Die Bilder aus der Ukraine werden nicht besser. Mir fehlen alle Worte.

Als die fremde Frau in Moskau ihr Plakat in die frisierten Nachrichten hält, schöpfe ich zum ersten Mal wieder Mut. Unglaublich! Wie wahrhaft mutig sie ist!

Meinst Du, die Russen wollen Krieg? Ich lese, dass 70% der Russen mit Putin und seiner Politik einverstanden sind. Ich glaube das nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, wie in einem so großen Land die Informationen so dermaßen blockierte und überwacht werden können.
Ich lese, dass man nicht „die Russen“ sagen soll. Keine Verallgemeinerungen eines ganzen Volkes. In Moskau läuft in einem Stadion eine riesige sehr befremdliche Polit-Show ab. Ich bin mit solchen Shows groß geworden. Ich weiß, was das mit einem macht. Man denkt, dass es an der eigenen Außenhaut abprallt. Dennoch: Glaubt Ihr das wirklich alles, möchte man schreien. Mein Urteilsvermögen in der damaligen Zeit war auch geprägt und beeinflusst vom West-Fernsehen. Wir lebten also nicht hinter dem Mond, und was im ND stand, konnte uns damals nur ein müdes Lächeln abringen.

Ich lese im Internet über die Geschichte der Ukraine. Als der Bundestag nach der Rede von Selenskji zur Tagesordnung übergeht, bin ich beschämt. Und ratlos.

Überhaupt. Meine Stimmung wechselt. Kann man sich an diese Nachrichten gewöhnen? Wen interessiert das eigentlich, was ich darüber denke. Ich fange an, die Fragen auszusprechen, erstmal mir selbst gegenüber. Noch immer habe ich Probleme damit, auf meinem Handy die Statusmeldungen der anderen anzuschauen. Man pflanzt Blumen, man bewirbt den Reiseblog, man fährt in die Winterferien. Die Kinder spielen. Man fotografiert die Zapfsäule an der Tankstelle. Man postet Friedenstauben. Und leere Ölregale im Supermarkt. Und Karikaturen von Putin. Und die ukrainische Flagge.

Der Graue und ich fahren ans Meer. Meer geht immer. Es geht uns gut. Und ich hadere damit. Ich bin uneins mit mir wie lange nicht. Der Himmel ist so unverschämt blau, wir sitzen in der Sonne und hören dem gleichmäßigen Klang des Wassers zu.

In der Berliner Zeitung veröffentlicht der Musiker Uwe Hassbecker ein Interview. Ich kann herauslesen, dass es ihm genauso geht wie mir. Das Unvermögen, das in Worte zu fassen, was zurzeit in einem vorgeht. Sein Statement ermutigt mich. Was er schreibt, trifft meine Gedanken. Auch er ist überzeugt, dass die meisten Russen den Krieg nicht wollen. Auch er betont, dass seine Worte eine Momentaufnahme sind, und die Dinge sich täglich ändern.

„Das hier aufzuschreiben war mir wichtig und vielleicht hilft es mir selbst ein wenig, dieses absolut surreale Geschehen besser zu verstehen.“ (Uwe Hassbecker, Berliner Zeitung vom 23.03.2022)

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Kommentare

Kommentar von Problemcousine |

DANKE !

Kommentar von Dieter |

Ja Simone, es geht sicherlich vEs ist wiiel so wie Du es wieder einmal so mitreißend schreibst. Wir haben eine Zeitzeugin seit Februar bei uns und es ist erschreckend was in all den Jahren dort passiert ist und wie Du richtig schreibst, es hat niemanden gekümmert dass sich Ukrainer gegenseitig aus dem Leben gerissen haben. Ich wünsche uns allen ganz viel Weisheit das zu erkennen was sich wirklich abspielt und bete für den Frieden.

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