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Eine schöne Bescherung

von (Kommentare: 3)

Wenn zu Advent kein Licht mehr brennt #24

„Hasse ma en Euro?“ Die Rote blickte hinab auf drei Augenpaare. Im Schein eines offenen Feuers sah sie zunächst vier Glubschaugen. Die waren paarweise auf ihre Plüschhausschuhe genäht. Neben ihnen befanden sich kleine Elchgeweihe aus Stoff und an der Spitze der Schuhe jeweils eine rote Puschelnase. Erst jetzt erkannte sie, was sie sich in der dunklen Wohnung an die Füße gezogen hatte. Die anderen beiden Augen befanden sich im Gesicht eines grauhaarigen alten Mannes. Sie leuchteten blau wie Saphire. Seine Nase war nicht ganz so rot wie die Stoffnasen ihrer Fußbekleidung. Eher rotblau. Der Graue hockte auf der Bank einer Bushaltestelle und blickte zu der Roten hinauf. Vor ihm loderten Flammen in einer Feuerschale. Neben ihm stand ein Einkaufswagen. Darin türmte sich haufenweise Zeug, das anderen Leuten nicht mehr gut genug war.

„Wat is jezze? Icke nehm ooch en Fünfer zur Feier des Tages.“
Konsterniert kramte die Rote einen Schein aus ihrem Portemonnaie und reichte ihn dem Grauen.
„Wattn ditte?“
„Reicht das nicht?“
„Watt heißt, reicht nicht. Wo krieg ick denn damit wat gekoft?“ Der Graue hielt der Roten den Schein wieder hin.
Sie griff danach und betrachtete ihn. Eins A. Ein kaum benutzter 20-D-Mark-Schein. Was war daran verkehrt? „Das ist Wechselgeld vom letzten Einkauf.“
„Letzter Einkauf?“ echote der Graue. Er blickte die Rote an und überlegte, ob die vielen Jahre auf der Straße nun endgültig ihren Tribut forderten. Er hatte schon viel gesehen, doch jetzt zweifelte er ernsthaft an seiner Wahrnehmung. Vor ihm stand eine Art Bademantelskulptur, aus der ihn vom unteren Ende Rudolf das Rentier im Doppelpack anglotzte. Oben funkelten ihm zwei trotzige Augen entgegen, eingerahmt von einer pelzbesetzten Kapuze und einigen rotschimmernden Haarsträhnen.

Entweder war diese Person aus irgendeiner Einrichtung stiften gegangen oder nahe Angehörige hatten sie an einer Autobahnraststätte oder Tankstelle einfach „vergessen“.
„Das ist der blödeste 1. Advent, den ich je erlebt habe“, unterbrach die Rote die Überlegungen des Grauen.
„Wie? 1. Advent?“
„Na 1. Advent halt. Vier Wochen vor Weihnachten.“
„Vier Wochen vor …?“
„Haben sie was an den Ohren?“ Der Roten ging es langsam auf die Nerven, dass der Penner vor ihr dauernd wiederholte, was sie sagte.
„Nee. Ha ick nich. Abba en Kalender ha ick, der funktionieren tut.“ Der Graue zog ein erstaunlich neues Mobiltelefon hervor und hielt es der Roten hin. Geblendet von dem leuchtenden Monitor, erkannte sie zunächst die übergroß präsentierte Uhrzeit: 4:51. Etwas kleiner und in schmalerer Schrift darüber und dennoch gut lesbar: Dienstag, 24. Dezember.

„Ihr Telefon ist kaputt. Das hat ja schon Heiligabend.“
„Icke glob eher, dat hier wat anderes kaputt is“ grummelte der Graue. „Mein schmucket Teil isset jedenfalls nich. Vielleicht ham se ja ihrn Kalender zu ner Zeit gekoft, als man noch mit dit Geld gezahlt hat, wat se da mit sich rumschleppen tun.“
„Papperlapapp. Heute ist nicht Heiligabend. So ein Quatsch!“
Der Graue hob sein Hinterteil etwas an und zog eine mehrfach gefaltete Tageszeitung hervor. In aller Ruhe faltete er sie auseinander. Er strich die Titelseite etwas glatt und drehte sie mit ausgestreckten Armen der Roten entgegen.
„Berlin – ein Wintermärchen. Pünktlich zu Weihnachten Schnee“, las die Rote die große Überschrift vor.
„Kuckse ma auf et Datum. Von jestern.“
Die Rote erstarrte. Oben rechts war die Zeitung datiert mit Montag, 23.Dezember 2024.

Sie öffnete den Mund wie ein Karpfen, der aus dem Teich geangelt wurde. Sie brachte kein Wort heraus. „Ditte is doch ma ne schöne Bescherung, wa? Hohoho!“ lachte der Graue und amüsierte sich köstlich über seinen Wortwitz. Tatsächlich hatte sich die Rote gefragt, warum die Nachbarn vor zwei Tagen begonnen hatten ihre Weihnachtsbäume aufzustellen und zu schmücken. Sie hatte es sich mit der immer früher ausgerufenen Weihnachtssaison erklärt. Man wunderte sich ja langsam über gar nichts mehr. Der Graue rückte ein Stück zur Seite und lud die Rote mit einer Geste ein, Platz zu nehmen. Zu gerne hätte sie sich jetzt gesetzt. Doch ihre Bademantelmontur ließ das nicht zu. Darin zu laufen war schwierig genug, aber sitzen war damit unmöglich. Ihr wurde schwindelig.

„Auf den Schreck brauch ma ersma wat. Wa!?“ hörte sie den Grauen sagen. „Wodka is alle. Hab nur noch wat mit Eier.“ Die Rote schaute auf einen Becher, in dem sich eine cremig gelbe Flüssigkeit befand. Der Graue hielt ihn ihr entgegen. Das dunkelsilberne Haar des Mannes war voll und dicht. Das stand ihm gut. Allerdings klebte es ihm ziemlich ungewaschen am Kopf. Außerdem roch er etwas ranzig. Der bräuchte eine Frau, die sich um ihn kümmert. Dann könnte aus ihm noch was werden, kam der Roten in den Sinn. „Also, Prostata“, riss sie der Graue aus den Gedanken. „Und frohe Weihnachten jewünscht.“
Die Rote griff den offensichtlich schon häufig benutzten Becher. Sie blickte in die strahlenden Augen des Grauen und dann etwas angewidert auf das Trinkgefäß.

Mit spitzen Lippen nippte sie vorsichtig an der Flüssigkeit. Eierlikör! Die Rote kippte ihn in einem Zug hinunter. Scheiße, war das gut! Und plötzlich formten sich zwei Worte in ihrem Kopf, die ihr mehr als 30 Jahre nicht über die Lippen gekommen waren. „Frohe Weihnachten“, hauchte sie dem Grauen zu. Der lächelte die Rote gütig an. Er hätte nicht sagen können, ob es geschmolzener Schnee war oder ein paar Tränchen, die der Bademantelfrau in diesem Moment die Wangen hinabliefen. „Komm, einer geht noch.“ Der Graue strahlte die Rote an und griff erneut zur Eierlikörflasche. Die Rote lächelte zurück. Glückselig.

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Kommentare

Kommentar von Die Kleene |

Ach was für ein schönes Ende. Darauf nachher ein Eierlikörchen, Prost! Wir wünschen euch eine fröhliche und friedliche Weihnacht mit euren Lieben
A&Y

Kommentar von Maxi(miliane) |

Naja, ein bisschen happyer hätte ich mir das Ende schon gewünscht. (Wenigstens einen sauberen Becher für den EiLi!).

Kommentar von Problemcousine |

Rrromantischer Schluß. Die geneigte Leserschaft fragt dich jetzt natürlich: WIE GEHT'S WEITER? Oder bleibt das der Fantasie eines jeden selbst überlassen? Ein Ansatzpunkt wird ja in den Raum gestellt. Den werde ich für mich weiterverfolgen. Frohe Weihna hten für die Rote in Bademänteln und den Grauen mit Schmalztolle und Eierlikör aus Mecklenburg von C&J.

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