Egal wohin, Hauptsache ans Meer
von Simone Keil (Kommentare: 1)
Mit dem Urlaub haben wir uns in diesem Jahr schwergetan, der Graue und ich. Die Eltern mussten wir im Mai allein aufs Schiff schicken, weil uns drei Tage vorher die Testergebnisse einen roten Strich durch die Rechnung machten. Unsere Mütter schickten uns vergnügte Fotos und fuhren unter der Lorelei entlang. Wir schnieften in die Taschentücher und buchten zum Trost eine Woche Usedom. Auch schön. Denn Meer, das wissen wir, geht immer.
Am Sonntag, den 19.06.22, hatten wir den halben Tag bei 30 Grad auf der Pferdekutsche den Mündesee in Angermünde umrundet. Bestens gelaunt und durchgeschüttelt von unserem eigenen Gekicher stiegen der Graue und ich ins Auto, winkten meinen Freundinnen zu und sausten der Ostsee entgegen, Badehose und Sonnencreme im Gepäck.
Dunkle Wolken und massenhaft Autos kamen uns auf der Gegenspur entgegen. Als wir in Heringsdorf ankamen, war die Temperatur um mindestens 10 Grad gefallen und es regnete aus Kübeln. Wir hatten weder Regenkleidung noch Schirm mit. Traurig guckten wir aus dem Fenster auf die aufgewühlte Ostsee.
Usedom, die Badewanne von Berlin, auch genannt „die Sonneninsel“, zeigte sich nicht gerade von der besten Seite. Ich überlegte, ob und wo ich mir eine wärmere Regenjacke kaufen könnte. Eine mehr, die zuhause zu den anderen in den Schrank gehängt wird, weil ich in den verschiedenen Orten der Welt einfach immer friere und warme Jacken kaufen muss. Ich hatte schöne Jacken aus San Francisco, aus Perth und aus Auckland. Blöderweise nicht auf Usedom dabei. Der Graue sagte, es komme nicht in Frage, dass wir schon an Tag eins des Urlaubs zum Kaufhaus Stolle fahren würden. Ich erklärte ihm zum hundertsten Male, dass das Kaufhaus nicht Stolle, sondern Stolz heißt und immerhin mein (und Kochmaus!) Lieblingsladen an der Küste sei. Papperlapapp, sagte der Graue und schob mich aus der Wohnung an den Strand zum Spaziergang. Es hörte auf zu regnen, und über uns riss der Himmel auf. Die Ostsee kann es eben immer wieder.
In den nächsten Tagen liefen wir bei herrlichem Sonnenschein den Strand nach rechts (Ahlbeck) und nach links (Bansin) und zurück, spazierten über die schönen Seebrücken und die Strandpromenade (12 Kilometer) und kletterten auf dem neuesten Baumwipfelpfad (gibt es seit 2021) nach oben, um über die Bäume bis an den blauen Horizont zu schauen. Wir machten das, was wir am liebsten machen: Aufs Schiff gehen. Diesmal nur bis nach Swinemünde, wo wir eine kleine Runde durch die Stadt drehten und uns auf die Rückfahrt freuten. Bootfahren ist unser Ding. Darüber geht nichts.
An einem besonders schönen Tag in der Woche mieteten wir uns einen Strandkorb und ich stieg ganz mutig zum Anbaden in die Fluten. Der Graue traute sich nicht und verbrannte sich zur Strafe die Beine. Abends schimpfte er mit mir, weil ich ihn nicht ausreichend einbalsamiert hätte und nicht die mitgebrachte Schutzsalbe auf ihm verstrichen hätte. Schließlich hätte ich doch einen Doktor in Kosmetik. Das stimmt, sagte ich, und verstrich Aloe Vera auf seine glühenden Waden.
Mit Horch in der Strandmuschel
Ich entdecke ein Plakat an der Promenade: „Horch“ kündigt einen Auftritt am Abend an. Die leben noch, denke ich und muss in mich hineinlachen. Ich mache ein Foto vom Poster und schicke es an meine Freundin aus Studientagen. „Oh mein Gott, leben die noch?!“, schreibt sie begeistert zurück.
Anfang der 80-er Jahre spielte die Gruppe Horch – seinerzeit aufsteigender Stern in der Musik- und Folklore-Szene der DDR – in unserem Studentenklub in Meißen/Siebeneichen. Die Jungs waren noch Amateurmusiker, jung und hübsch wie wir, sahen wild und bunt aus und trugen am Abend ihre Instrumente aus ihrem Auto über den Hof in die Gewölbe des Klubkellers. Der größte von ihnen, besonders gutaussehend, zog meinen Blick auf sich. Als er gerade an mir vorbeiging, fiel mir nichts Geistreicheres ein als „Oh, Du gehörst wohl zur Band?!“
„Nee, ich bin hier nur der Fahrer!“, meinte er, ließ mich stehen und schleppte sein Zeug davon. Ich guckte traurig hinterher und fühlte mich wie Baby, die gerade eine Wassermelone getragen hatte.
Am Abend beim Konzert stand er am Mikrofon und lachte mir in der ersten Reihe zu. „Die lassen hier den Fahrer mitspielen, die sind ja nett“, raunte ich meiner Freundin zu, und wir gackerten uns darüber kaputt.
Die Band blieb für uns immer „die ihren Fahrer mitspielen lassen.“ Sie standen damals noch ganz am Anfang, und auch später, als ich mit ihnen in der gleichen Stadt wohnte und sie mir öfter begegneten, blieben sie das in meinen Gedanken. Sie wurden sehr erfolgreich, spielten jahrelang in derselben Besetzung und veröffentlichten mehrere Langspielplatten. Wie ich jetzt nachlesen konnte, spielten sie sogar auf Konzerten mit Jethro Tull zusammen.
„Die Erfinder des mittelalternativen Barock’n’Rolls feierten 2019 ihr 40 - jähriges Bühnenjubiläum! Was 1979 als Betörungsversuch der einheimischen Schulmädchen mit Lauto, Flauto und Gesang begann, kann heute auf ca. 2500 Konzerte in Deutschland, Österreich, Schweiz, England, Ungarn, Polen, Tschechien, Russland, Italien sowie auf 9 Alben und 33 entsorgte Kraftfahrzeuge zurückblicken.“ – so ist auf der Internetseite von Horch zu lesen. Ich bin begeistert. Ich will hin! Der Graue will mit und verspricht, mir viele Fotos von meinem angeschwärmten singenden Fahrer zu machen.
Am Abend ist es mild und warm. Die Sonne scheint direkt auf die Strandmuschel in Heringsdorf, wo die Band ihre Instrumente aufbaut. Der Fahrer ist dabei, er darf wieder mitspielen, er sieht immer noch toll aus und er unterhält frech und charmant die Gäste. Auch sein Grau steht ihm total gut. „Das ist 40 Jahre her!! Wahnsinn!“, schreibt meine Freundin, der ich ein paar kurze Videos vom Konzert schicke.
Wir haben einen schönen und unterhaltsamen Abend, wir bleiben, bis der letzte Ton verklungen ist, und ich werde ein bisschen melancholisch, als ich mich in Gedanken im Studentenklub in Meißen sehe, mit Fleischerhemd und Römerlatschen, wie ich tanzend den Fahrer von Horch anhimmelte, vor einer halben Ewigkeit, die gerade erst gestern war.
Kommentare
Kommentar von N |
Mensch so so so schön geschrieben und im Bild festgehalten. Es war mir ein großes Vergnügen den Text zu lesen und die Bilder zu betrachten. Ich habe letztes Jahr im Oktober fast genau die gleichen Fotos gemacht, außer vom "Fahrer" natürlich, aber vom Baumwipfelpfad. Am meisten habe über die Wassermelone gelacht. Die Szene kannten wir zwar 1983 noch nicht, aber passender könntest du es nicht beschreiben.
Und Ja!!! Ostsee ist immer wieder schön! Habt einen sonnigen Sonntag!
Eure ehemalige Horch-Hörerin aus Sachsen
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