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Der Uhrmacher von Everton

von (Kommentare: 2)

Der Uhrmacher von Everton

“Ich fürchte, Mister Galloway, dass wir alle von unseren Kindern am wenigsten wissen.”

Ein 16-jähriger Junge brennt mit seiner 15-jährigen Freundin durch. Sie wollen heiraten. Unterwegs bringen sie einen Menschen um, fliehen, werden geschnappt, landen vor Gericht und werden wegen Mordes verurteilt. Das allein ist bereits eine Geschichte. Und dennoch ist sie nur der eigentlichen Geschichte zugrunde gelegt. In der geht es, wie der Titel bereits verrät, um einen Uhrmacher, Dave Galloway. Er ist der Vater des aus der Spur laufenden Jungen.

Was folgt, ist ausschließlich aus der Perspektive des Vaters erzählt. Es ist die Geschichte eines verlassenen, zweifelnden, verzweifelnden Menschen. Einer, der sein Kind alleine großgezogen hat, als ihn Ehefrau und Mutter wenige Monate nach der Geburt bereits mit einem andern Mann verließ. Für ihn gab es nie eine andere Frau. Sein Leben war bestimmt durch die arbeitsbedingte Routine und seinen Sohn. Eine auf diese Inhalte reduzierte Welt gerät in erhebliche Unwucht, wenn eine der beiden tragenden Konstanten sich ohne Vorankündigung verabschiedet. Denn nicht einmal dazu sieht sich der Sohn in der Lage: Abschied zu nehmen. Und so lässt er seinen ratlosen Erzeuger und Erzieher zurück, der sein Kind offensichtlich nicht so gut kannte, wie er sich das selbst einredet.

“Es konnte doch nicht sein, dass auf einen Schlag sechzehn Jahre eines gemeinsamen Lebens, einer innigen Vertrautheit einfach ausgelöscht waren!“

Aber genauso ist es mit dem Verschwinden des Jungen gekommen. Der bricht alle Brücken hinter sich ab. Sein Vater will und kann das nicht zulassen. Aus der Distanz und ohne Kontakt zu ihm, beschwört er seinen Sohn. In seinen Gedanken erteilt er ihm keine Ratschläge, sondern verspricht ihm lediglich, dass er als sein Vater zu ihm halten werde, egal, was da komme. Alles, was Dave tut, denkt oder fühlt, ist getrieben von der Hoffnung, seinen Sohn zurückzubekommen. Der Leser allerdings ahnt bereits früh, dass er damit ziemlich allein unterwegs ist. Der Vater lernt auf die harte Tour, dass sich der Sohn unumkehrbar von ihm abgenabelt hat. Bis zum Schluss ist Dave nicht willens, das zu akzeptieren. Auch deswegen, weil er nicht fähig ist, seine tatsächliche Bedeutung für den Heranwachsenden richtig einzuschätzen. Dave lebt in seinem ganz eigenen Gefühls- und Wahrnehmungskosmos. Das wird deutlich, als ihm der Mord, den sein Sohn begeht, weniger berührt, als der Umstand, dass der Junge mit einem Mädchen durchbrennt, von dem er nicht viel weiss. Dave ist eifersüchtig auf den Menschen, der dem Sohn nun näher steht als der aufopferungsvolle, fürsorgliche Vater.

Er reist seinem Sohn hinterher, auf den Spuren von Polizei und Medienvertretern. Daves Sohn ist mittlerweile zum Gegenstand der öffentlichen Aufmerksamkeit geworden. Dem Vater wird dabei eine Nebenrolle zugestanden. Unsicher und wehrlos bedient er den Wissens- und Sensationsdurst der Öffentlichkeit.

In Ton und im Tempo plätschert die Erzählung in guter alter Simenon-Manier vor sich hin wie ein Rinnsal durch eine geheimnisvolle Landschaft. Eine trügerische Unaufgeregtheit liegt auf dem überschaubaren Spannungsbogen. Alles was geschieht, überrascht nicht wirklich, verwundert den Leser aber stets auf Neue. Dabei fällt es schwer, sich bedingungslos auf die Seite von Dave zu stellen. Vielmehr entwickelt sich eine Art Mitleid mit ihm. Es sind nicht die äusseren Ereignisse, die den Leser dabei fesseln. Es ist das Rätsel um das Wesen des Uhrmachers, der einem zeitweilig vorkommt wie ein Ausserirdischer, dem es gelungen ist, Jahrzehntelang unbemerkt unter Menschen zu existieren.

Nachdem sich der überwiegende Teil des Romans im Schritt-Tempo vorwärts bewegt, drückt der Autor mit dem letzten Kapitel doch noch aufs Gaspedal. Alle Fragen, die die Erzählung bis dahin ungeklärt liegengelassen hat, werden nun beantwortet. Als sein Junge verurteilt wird und für den Rest seines Lebens hinter Gittern verschwindet, findet Dave zurück zu seinem inneren Frieden. Es herrscht ein Zustand, mit dem er wieder leben kann. Nicht die physische Nähe verbindet sie wieder miteinander, sondern ein unsichtbares Band. Sie sind Gefangene ihrer gemeinsamen DNA.

Hier schliesst sich ein Kreis, der sich in der Erinnerung Daves an seinen eigenen Vater öffnet, ihn selbst mit einschliesst, bis sein Sohn ihn vollendet. Drei Generationen verbindet eine Gemeinsamkeit. Einen Wesenszug, der nicht nur Auskunft gibt über den Ursprung der drei Männer, sondern auch für die Vorbestimmung ihrer individuellen Schicksale. Jeder der drei meinte zu einer bestimmten Zeit, gegen die Welt, in der er lebte, aufbegehren zu müssen. Was sie dabei als Widerstand gegen ihre Umwelt verstanden, als Ausdruck der Selbstbestimmtheit, richtete sich am Ende aber doch nur gegen sie selbst. Indem sie meinten, zeigen zu müssen, wer sie wirklich sind, verabschiedeten sie sich aus der Gemeinschaft in eine selbstgewählte Isolation.

Zu dieser Schlussfolgerung gelangt der Uhrmacher allerdings nicht. Für ihn ist allein der rote Faden wichtig, der sich durch das Erbgut der Männer in der Familie zieht. Hieraus scheint er etwas wie Zugehörigkeit, Geborgenheit und Rechtfertigung für seine Existenz zu ziehen. Er weiss, wer er ist und warum er so ist. Neben aller Tragik überwiegt ein Gefühl von Zufriedenheit und einem unterschwelligen Stolz über diese Selbsterkenntnis.

Mit der Annahme seines Schicksals als unausweichlich, begibt sich der Uhrmacher ohne Not in eine Opferrolle. Er bringt Opfer und wird darüber selber zum Opfer. Und in eben dieser Opfermentalität findet er seinen inneren Frieden und eine Stabilität, die es für ihn zu wahren gilt. Andere Möglichkeiten oder Lebensmodelle schließt er für sich aus.

Mit welcher stringenten Logik das erzählt wird, ist verstörend. Darin liegt eine tiefe Tragik und macht diese kleine, eindringliche Geschichte so zeitlos.


„Der Uhrmacher von Everton“. Autor: Georges Simenon; 202 Seiten.

5 Punkte auf Peters RuG-Skala

1 = katastrophal
2 = schlecht
3 = geht so
4 = okay
5 = gut
6 = sehr gut
7 = sensationell

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Kommentare

Kommentar von Martina |

Klingt vielversprechend, lieber Peter. Ich hab früher sehr viel von Simenon gelesen, ihn dann irgendwie aus den Augen verloren. Aber nun sollte deine Kritik Anlass sein, ihn noch mal in den Blick zu nehmen. Übrigens: ich hab mich für den newsletter angemeldet, es scheint aber nicht geklappt zu haben...

Kommentar von Peter |

Liebe Martina, Simenon ist einer meiner wenigen literarischen Dauerbegleiter. Immer, wenn ich zwischendurch ein bisschen Ablenkung brauche, ist er eine gute, verlässliche Adresse. Und immer wieder lässt er mich ratlos zurück. Als Autor frage ich mich jedesmal wieder: wie bringt dieser Mensch es fertig, mit kurzen, knappen Worten zu beschreiben, wozu andere Autoren Seiten über Seiten verschwenden - ohne dabei auch nur ein Gefühl beim Leser entstehen zu lassen. Bei aller Fiktion und Fantasie sind die meisten seiner Bücher von einer unerwarteten Tiefe und Weisheit. Und das Beste: sie sind meistens nur 200 Seiten lang.

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