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Der Rausholer

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Der Rausholer

Anfang der 1970er Jahre wird der 18-jährige Schüler Michael Müller von seiner alleinerziehenden Mutter vor die Tür gesetzt. Er verdient sich Geld für ein Flugticket in die USA und reist nach New York. Er hat 200 DM Taschengeld dabei, die nach Umtausch gerade mal 57 Dollar ergeben. Damit kommt er nicht weit. Es ist die Zeit, in der die Schlagzeilen aus den USA vom Vietnamkrieg und der wachsenden Flower-Power-Bewegung geprägt sind. Müller ist Kriegsgegner und findet Hippies toll. Doch statt mit Blumen im lockigen Haar in Kalifornien, landet er mit Kurzhaarschnitt in Asien. In amerikanischer Uniform. Mitten im Krieg.

Was für ein Einstieg in eine unglaubliche Geschichte! Vom wohltemperierten Bayern der 70er Jahre über die USA, hinein in den heißen Kampf um ein feuchtwarmes Land.

Moment mal! - stutzt der geneigte Leser nicht zum letzten Mal in diesem Buch: Ein (west)deutscher Staatsbürger in US-Uniform im Vietnamkrieg? Das ist so unglaublich wie kurios. Und es wird nicht die einzige Stelle im Buch sein, in der Assoziationen an ein anderes deutsches Vorbild geweckt werden, das es zu einer Symbolfigur in der Literatur gebracht hat: Simplicius Simplicissimus. Der gleichnamige Schelmenroman von Christoffel von Grimmelshausen von 1668 berichtet von einem 10-jährigen Bauernjungen, der in die Wirrnisse des 30-jährigen Krieges katapultiert wird und darüber berichtet.

„Der Rausholer“ erzählt aus einer neuzeitlichen Epoche. Episodenhaft und angereichert mit kleinen und großen Absurditäten und Anekdoten, schlägt der tiefere Kern der Geschichte jedoch einen Bogen von der Moderne zu dem barocken Klassiker. Nur die Zeitspanne, die „Der Rausholer“ umschreibt, ist deutlich kürzer. Sie umfasst die Jahre 1971 bis 1979. Dafür ist die Erzählung ein Streifzug durch mehrere Länder und Kontinente: USA, Vietnam, Korea, zahlreiche Länder in West- und Osteuropa, Türkei, Afghanistan, Iran und Pakistan.

Allein die Reiseschreibungen aus einer längst vergangenen Zeit sind lesenswert und wirken in ihrer Unwiederbringlichkeit geradezu märchenhaft: Afghanistan ohne Krieg, Iran ohne Ajatollahs und ein Europa, das durch eine in nord-südliche Richtung verlaufende Grenze in zwei monolithische Politik- und Wirtschaftssysteme geteilt ist, die sich feindlich gegenüberstehen.

Müller reist nicht aus touristischen Gründen. Wenn er unterwegs ist, ist er im Einsatz. Vor sich ein klares Ziel. Genauer gesagt: eine Mission. Anfänglich ist er noch sein eigener Auftraggeber, wenn er dem Liebesbrief einer Freundin folgt und mit einem klapperigen VW-Käfer von München aus startet, um die Angebetete in Teheran aus den Händen ihres Vaters zu befreien. Als er dort endlich ankommt, ist der Brief (Telefon, email, Internet - alles Fehlanzeige zu der Zeit!) bereits Monate alt. Die Lage hat sich geändert, die Liebste zieht es vor, an Ort und Stelle zu bleiben. Von Rausholen keine Spur. „Außer Spesen nichts gewesen“, sollte man meinen. Doch wie es in einer gut strukturierten, perfekten Geschichte sein muss, wird sich dieser vergebliche 5000 Kilometer lange Liebes-Trip Jahre später in einem anderen Zusammenhang doch noch auszahlen.

Die anderen Missionen des Michael Müllers erfolgen nun im Auftrag der „Firma“, besser bekannt unter dem Kürzel CIA. In Vietnam hatte er nämlich eigenmächtig beschlossen, den Krieg zu beenden und war auf spektakuläre Weise desertiert. Zurück in den USA wurde er vor die Entscheidung gestellt, hinter Gitter zu marschieren oder seine bemerkenswerten Fähigkeiten in Sachen „Tarnen, Täuschen und Verpissen“ in den Dienst des amerikanischen Geheimdienstes zu stellen.

Nach entsprechender Ausbildung und Unterweisung landet der knapp 20-Jährige wieder in Deutschland. Dort studiert er, arbeitet als Krankenpfleger und Rettungsfahrer, fristet ein geordnetes und normales Leben. Zumindest so lange, bis ihn „Uncle Sam“ aus seinem bürgerlichen Schlummer wachrüttelt und mit Spezialaufträgen in Anspruch nimmt. Die bestehen in den folgenden Jahren vor allem darin, wichtige Personen von einem Land in ein anderes zu befördern. Das Besondere daran: das plötzliche Verschwinden dieser Menschen durfte erst auffallen, wenn sie in Sicherheit waren. Müller erledigt immer wieder solche Einsätze als „Reisebegleiter“ und Fluchthelfer. Was er da macht, ist geheim, konspirativ und oft genug auch lebensgefährlich. Per Flugzeug, Hubschrauber oder mit der Bahn bringt er zahlreiche Menschen über hermetisch abgeriegelte Grenzen. In den meisten Fällen weiß er nicht einmal, um wen es sich dabei handelt. Einmal entkommt Müller dabei selbst nur knapp dem Tod. Ein anderes Mal kehrt er mit einer Schussverletzung zurück.

Ebenso wie beim bereits zitierten Simplicius, scheinen Furcht oder Angst auch für Müller keine beherrschenden Emotionen zu sein. Stattdessen sind sein ganzes Wesen, seine Entscheidungen und sein Handeln von einer unbekümmerten Leichtigkeit bestimmt, die mit dem Wort „Naivität“ nur unzureichend umschrieben ist. Müller ist nämlich weder dumm noch blauäugig. Er weiß, worauf er sich einlässt, wägt Risiken einigermaßen ab und lässt sich dennoch (oder eben deshalb?) auf immer neue Abenteuer ein. Natürlich spielt auch Geld eine Rolle. Aber das allein ist nicht der ausschlaggebende Grund dafür, dass er sich über die Jahre zum passionierten und professionellen Rausholer entwickelt.

Die Geschichte endet mit einer Operation, die trotz all seiner Erfahrungen zu einer Art Meisterprüfung für Müller wird. Allein diese Episode ist so faszinierend und spannend, dass sie ein eigenes Buchprojekt wert wäre. Im Chaos der sich entfesselnden iranischen Revolution holt er - allein(!) - im Auftrag des Bundesnachrichtendienstes 141 deutsche Staatsbürger von der Baustelle eines Atomkraftwerkes in Buschehr in allerletzter Minute zurück nach Hause.

„Der Rausholer“ nimmt uns mit, führt uns von den hohen Podesten der Politik direkt hinab ins feuchte Gras. Aus der Froschperspektive erzählt er uns, dass die großen Maschinen und Staatsapparate auch nur durch eine unüberschaubare Zahl kleiner Rädchen am Laufen gehalten werden. Welchen Wert der Einzelne dabei für das große Ganze hat und wie wichtig er in diesem Szenario ist, lernen die Agenten-Anwärter bereits in der Ausbildung. Wie religiöse Losungen waren in den Schulungsräumen der CIA riesige Banner aufgehängt. „Lass dich niemals erwischen!“ und „Wir kennen dich nicht!“

„Dieser Roman beruht auf wahren Begebenheiten“, ist der eigentlichen Geschichte vorangestellt. Die Hauptfigur trägt den Namen Michael Müller, ein Alter Ego des Autors Max Claro. Hinter diesem allerdings verbirgt sich der wahre, ungenannte Name des leibhaftigen Rausholers. Es hat ihn gegeben und es gibt ihn immer noch. Heute weilt er allerdings im wohlverdienten Ruhestand. Was und wie er Michael Müllers Ausflug in die Welt der Geheimdienste schildert, lässt wenig Zweifel an der Wahrheit der Begebenheiten aufkommen. Ein lesenswertes Interview mit dem Autor findet sich dazu hier: https://buchszene.de/der-rausholer-interview/

Einen Wermutstropfen bietet das Buch zum Schluss dann doch: Es zerstört nachhaltig eine liebgewonnene und hochgehaltene Illusion. Ein echter Agent - so wie der Rausholer - hat mit James Bond soviel gemeinsam wie ein Ei mit einem Würfel. Ab sofort ist 007 für mich nur noch ein englischer Parvenü mit knitterfreien Maßanzügen und komischen Trinkgewohnheiten. Jedenfalls wüsste ich, wen ich anrufen würde, wenn mich jemand irgendwo raushauen sollte. Er sitzt in Deutschland und schreibt hoffentlich an seinen Erinnerungen über die Zeit nach 1979.

 

„Der Rausholer“. Autor: Max Claro; 368 Seiten.

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