Couchsurfing in Russland
von Simone Keil (Kommentare: 1)
Was ist Propaganda, was ist echt? Eine Frage, die mich seit dem russischen Überfall auf die Ukraine immer wieder beschäftigt hat. Und die genauso auf dem Klappentext des Buches steht. In der Hoffnung, Antworten zu finden, bin ich auf viele neue Fragen gestoßen.
Immer wieder faszinieren mich Bücher, in denen die ganz große Geschichte auf die ganz kleinen Geschichten heruntergebrochen wird. Denn nur so wird die ganz große Geschichte für mich greifbar. Mit dem Thema „Russland“ habe ich mich seit dem letzten Jahr so viel beschäftigt wie in allen Jahren davor nicht zusammen. Mein Blick auf Russland ist geprägt durch die Umgebung und die Umstände, in denen ich aufgewachsen bin. Die Russen waren bei uns immer „die Freunde“, obwohl wir kaum Begegnungen mit ihnen hatten, ihre Kasernen blieben hermetisch abgeriegelt, ihre Gegenwart war für uns kaum spürbar. Wenn wir dort ganz selten zu Besuch waren, um als Schüler ein paar russische Lieder zu singen, wurden wir nicht aus den Augen gelassen. Wir konnten kein Gespräch mit irgendjemandem führen, wie auch. Es roch nach Motoröl, und die jungen Kerle in ihren Uniformen im Saal sahen kaum älter aus als wir.
In der Schule musste ich mich mit der schweren Sprache herumschlagen, ohne sie jemals wirklich anwenden zu können. Wir haben viel auswendig lernen müssen, wir konnten es nie überprüfen. Ich hatte eine Brieffreundin in der Schulzeit, ihre Briefe zu übersetzten und ihr auf Russisch zu antworten war die bis dahin „größte“ Leistung meiner Sprachkarriere. In Moskau Anfang der 80-er Jahre verstand man uns auf der Straße nicht einmal. Wir fragten „Gidje moschno kupjitch Kanfjekt?“ (Wo kann man Konfekt kaufen?) und kamen uns sehr weltmännisch vor. Die Leute guckten uns an, als wollten wir uns fürs Weltraumprogramm melden. Sie zuckten die Schultern und ließen uns stehen. Und das nach jahrelangem Russisch-Unterricht.
Das Buch „Couchsurfing in Russland“ habe ich zu Weihnachten bekommen. Ich verschlang es in kurzer Zeit, in der Hoffnung, jetzt vielleicht etwas über die Russen zu erfahren, die ich nie kennengelernt hatte, immer auf der Suche nach Antworten auf die Frage: „Wie ticken die wirklich?“ Das Buch ist bereits einige Zeit vor dem Ukraine-Krieg geschrieben und veröffentlicht worden. Und niemand der vielen Menschen in diesem riesigen Land, die der Autor auf seiner langen Reise getroffen hat, wollte einen Krieg führen.
Denn in der Tat: Wieder bestätigt sich, was ich zum Beispiel schon nach dem Lesen von „Getauschte Heimat“ über Israel erfahren habe. Wenn man die große Geschichte auf die kleinsten Zellen, nämlich die einfachen Menschen, die sie machen, herunterbricht, und hinter die Schlagzeilen und reißerischen Nachrichten schaut, bietet sich einem überall das gleiche Bild: Alle wollen an ihrem vertrauten Leben festhalten, ihre Familien und Freunde behalten, ihren Alltag schützen, ihre Kinder großziehen, ihren Lebensstandard verbessern. Kein einziger Mensch möchte in den Krieg ziehen. Man baut ein Haus, man pflanzt einen Garten. Wie kommt es dann dazu, daß ein Land ein anderes überfällt?
Erstaunlich – aus heutiger Sicht – werden im Buch auch Probleme nicht verschwiegen: Auch in Russland gibt es Waffennarren, Putin-Versteher (sehr viele sogar), intellektuelle Denker, seltsame Theoretiker und überschwängliche Kritiker. Zu der Zeit war offensichtlich Kritik und Meinungsfreiheit und eine Vielfalt der Mediennutzung in und außerhalb Russlands noch möglich. Die „Angliederung“ der Krim wird durchaus positiv bewertet von den einfachen Menschen in Russland. Putin ist allgegenwärtig, seine autokratische Führung wird im Land hingenommen, viele Leute sind auf seiner Seite. Er hat den Menschen ihren Stolz zurückgegeben, das hört man immer wieder. Überall hängen seine Plakate und Bilder. Hat niemand gesehen, wohin das führen würde? Und wir, die Deutschen? Auch wir haben weiterhin Geschäfte mit den Russen gemacht. Hat uns das Schicksal der Krim vor 10 Jahren wirklich interessiert?
Mit großer Spannung und großer Nachdenklichkeit lese ich Seite um Seite und verfolge die Gespräche mit den Menschen, die der Autor getroffen hat – und höre mit Erstaunen ihre unterschiedlichsten Ansichten. Ich komme auf keinen gemeinsamen Nenner und denke an vielen Stellen: Ob die das heute noch genauso sehen würden? Ob die das heute noch so sagen dürften?
Am Ende war ich froh, daß ich den Autor auf seiner großartigen Reise begleiten durfte. Ich verabschiede mich davon, Antworten auf so viele Fragen zu bekommen. Die Fragen, die mich heute bewegen, würden wahrscheinlich morgen ganz andere sein.
Und dennoch finde ich im Buch einen Absatz, der mir zutiefst aus dem Herzen spricht, und den ich selbst auch nach den vielen wunderbaren Reisen und Begegnungen, die ich in den letzten Jahren machen durfte, nicht besser hätte auf den absoluten Punkt bringen könnte:
„Maximal ein Prozent der Menschen ist absolut toll und perfekt, und ein Prozent ist komplett schlecht. Die restlichen 98 Prozent sind eine komplizierte Mischung aus Gut und Schlecht. In deinem Leben begegnest du meistens Menschen, die weder Engel noch Teufel sind, sondern ein Cocktail aus beidem. Wenn du unter Engeln leben willst, musst du die Leute um dich herum provozieren, nur ihre guten Seiten zu zeigen.“ (Couchsurfing-Profil von Sergej aus Wolgograd, Spruch seiner Mutter)
Der Autor ergänzt:
„Ich habe auf meinen Reisen eine ähnliche Erfahrung gemacht. Gerade in Ländern, die viel negative Presse abbekommen, erlebe ich oft mit den ganz normalen Menschen die herrlichsten Dinge, die nicht zu dem schlechten Image zu passen scheinen …. Vermutlich sind ein Prozent aller Russen absolute Volldeppen. Und ein Prozent der Österreicher, ein Prozent der Muslime, ein Prozent der Amerikaner, ein Prozent der Deutschen, ein Prozent der Christen, ein Prozent der Nigerianer, ein Prozent der Flüchtlinge, ein Prozent der Leipziger, ein Prozent der Frauen, ein Prozent der Linkshänder. Leider generiert dieses Prozent besonders viel Aufmerksamkeit. Und auch wenn ihr Anteil gering ist, kommt man rechnerisch bei 7,4 Milliarden Erdenbürgern auf 74 Millionen Idioten weltweit. Das reicht, um einiges kaputt zu machen.“
Ich lege das Buch zögerlich und nachdenklich aus der Hand, aber nicht zu weit weg. Ich lese immer wieder Stellen nach, die ich mit bunten Zetteln markiert habe.
Ich habe noch immer so viele Fragen.
„Couchsurfing in Russland“ von Stephan Orth
Piper Verlag, 256 Seiten, 12,00 Euro
Kommentare
Kommentar von Ralf |
Hallo Simone, danke. Ich kann Dir dazu noch mehr erzählen. Aus eigener Erfahrung. Jetzt schon 16 Jahre Russland...
Grüsse. Ralf
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