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Backstein trifft Backfisch

von (Kommentare: 1)

Kultur, Kulinarik, Natur. Drei Fliegen mit einer Klappe, denken sich die Rote und der Graue, als sie sich auf den Weg nach Wismar machen, der kleinen Hansestadt zwischen Lübeck im Westen und Rostock im Osten. Hier locken Backsteingotik und Backfischbrötchen.

Am Ziel wird das Auto vorm Hotel abgestellt und bis zur Abreise nicht mehr bewegt. Alles ist fußläufig erreichbar. Das gibt schon mal volle Punktzahl.

Seeluft macht hungrig. Auf zum Hafen. Zu Imbissbuden umgebaute Bötchen schmiegen sich an die Kais und preisen ihre Delikatessen an, die alle was mit Fisch zu tun haben.

Qual der Wahl.

Da wo am meisten los ist, wird es wohl am besten schmecken. Lange
Warteschlangen sind ein sicheres Qualitätsversprechen.

Diesmal nicht!

Erst hinterher - und damit viel zu spät - kommt die Frage auf, wieso sich eigentlich niemand daran stört, dass der vorfrittierte "Backfisch" so appetitlich aussieht wie eine verblichene Fischstäbchen-Verpackung? Genauso schmeckt nämlich auch das - unfreundlich über den Tresen gereichte - Endprodukt: nach Pappkarton, der in Fritteusenfett getunkt wurde.

Jede Wette, dass die dunkelbraune Brühe ein Original-Überbleibsel aus dem 30-jährigen Krieg ist. Darin wurde schon für den alten Wallenstein Fisch desinfiziert.

Neueren Datums ist lediglich das ziegelsteinförmige "Brötchen", das die Fisch-Attrappe unappetitlich umschließt und zusammenhält. Als Tiefkühlware hätte es vor dem Verzehr eigentlich aufgebacken werden müssen. Eigentlich.

Auf das kulinarische Extremerlebnis folgt spontan und nicht ganz freiwillig eine Runde Intervallfasten. Die nächsten 16 Stunden kriegen die Reisenden keine feste Nahrung mehr runter. Sie versuchen stattdessen sich mit ihrem leichten Unwohlsein und unschönen Völlegefühl zu arrangieren.

Immerhin ist jetzt klar, warum die Mülleimer in Sichtweite der "Fisch"-Bude überquellen und die Möwen hier so groß sind wie Fischadler.

An der KBackfischbude stehen die Leute noch immer Schlange.

Am nächsten Tag bleibt das Wasser zunächst links liegen. Schließlich ist Wismar vor allem wegen seiner historischen Altstadt berühmt. 2002 wurde sie wegen ihrer gotischen Baudenkmäler in die Welterbeliste der UNESCO aufgenommen.

Hier blickt von allen Seiten Geschichte auf die Menschen herab.

Das älteste noch in seiner ursprünglichen Form erhaltene Bürgerhaus der Stadt wurde 1380 gebaut. Ein Gebäude mit dunkel glasierten Ziegelsteinen und einem beeindruckenden Staffelgiebel. Im Mittelalter wurde das Erdgeschoss als Wohn- und Geschäftsräume genutzt, darüber ordneten sich Speicherböden an. 1878 wurde hier eine Gastwirtschaft eröffnet. Das Gebäude erhielt den Namen „Alter Schwede" zur Erinnerung an die Wismarer Schwedenzeit von 1648 bis 1803.

Trotz einer Fülle gut erhaltener, sehenswerter alter Bausubstanz hat auch in Wismar der 2. Weltkrieg hässliche Narben im Weichbild hinterlassen, die schmerzlich daran erinnern, wie zerbrechlich all das ist, was an wundervollen Dingen von Menschenhand erschaffen werden kann. Damit das Gemüt darüber nicht zu schwer wird, benötigt es zur Abwechslung und als Gegenpol etwas beruhigende, zeitlose Ursprünglichkeit: das Meer.

Es geht zurück zum Hafen, strammen Schritts und mit geschlossenen Augen vorbei an den Fast-Fisch-Buden hin zu den Anlegern der Ausflugsschiffe.

Der alte Hafen wurde aufgemöbelt und modernisiert, um sich zeitgemäß zu geben. Ein Spalier von Ständen und Buden bietet typischen Erinnerungs-Klimbim feil. Zwischen ästhetisch fragwürdig modernisierten Gebäuden finden sich hier nur vereinzelt Bauwerke, die in ihrem Originalzustand erhalten wurden.

Maritimen Flair strahlen vor allem ein paar alte Schoner und Segelschiffe aus, die um die 150 Jahre alt sein dürften. Für eine zweistündige Kurzkreuzfahrt zur Insel Poel stehen motorbetriebene Boote mit Ausschank auf dem Oberdeck zur Verfügung. Je weiter sich das Schiff aus dem Hafen entfernt, desto unmöglicher wird es, in der Wismarer Silhouette zu identifizieren, was dort UNESCO-würdig ist. Stattdessen schieben sich von den Rändern Industrieanlagen ins Bild.

Mit Schiffsbau und Holzhandel war der Hafen ein Wirtschaftsfaktor, lange bevor Tourismus erfunden wurde. Auch heute stehen noch viele Wismarer in Lohn und Brot bei großen Firmen, von denen die wichtigsten in den Händen ausländischer Investoren und Unternehmer liegen. Malaien, Russen und Österreicher nutzen die Infrastruktur des Hafens, der ebenso geschichtsträchtig ist wie die Backsteingotik in der Stadt.

Der Wunsch nach einer vergangenen Romantik hat hier wie überall so viel mit der Wirklichkeit zu tun wie Backfisch mit frischen Meeresfrüchten.

Die Seeluft und der frische Fahrtwind versöhnen die Reisenden wie immer mit der Welt und mit sich selbst - und bräuchten eigentlich nie aufhören. Nach zwei Stunden Seefahrt und 30 Minuten Landgang in Poel betreten die Füße wieder Wismarer Boden. Damit war in knapp zwei Tagen erkundet, was die Stadt zu bieten hat. Ein bisschen weniger als erhofft, aber genug, um nicht enttäuscht abzureisen.

 

Wismar ist allemal einen Ausflug wert. Für Liebhaber und Interessierte an historischer Architektur ist die Innenstadt Fundgrube und Freiluftmuseum zugleich. Da während des 2. Weltkrieges "nur" 30% der Bausubstanz zerstört wurden, lassen sich interessante Studien zu den Baustilen der letzten Jahrhunderte machen, vom Fachwerk bis zum Jugendstil.

Dazwischen rumpeln jede Menge Besucher durch die Kulissen. Sogar Hopp-on & Hopp-off-Busse sind im Einsatz, wie man sie sonst nur in den Metropolen der Welt findet. All das relativiert den Charme und die Atmosphäre, die diese Stadt ausstrahlen kann.

Aber auch hier ist man dem Teufelskreis beigetreten, in dem die wirtschaftlichen Segnungen durch Tourismus irgendwann zu Lasten des Ursprünglichen gehen. Auswärtige Besucher spielen offensichtlich eine bedeutende Rolle für das wirtschaftliche Wohlbefinden der Stadt. Davon zeugt auch die hohe Dichte an Eis-Cafés, Pizzerien und Döner-Imbissen. Wer gepflegt essen gehen will, statt seine Nudeln auf Plastikstühlen an PVC-Tischdecken zu verzehren, muss das länger vorausplanen als seine Hotelübernachtung.

Am zweiten Abend will das reisende Paar das kulinarische Trauma des Vortages vergessen machen und sucht nach einem "gut bürgerlichen" Restaurant und einem Tisch für zwei Personen. Um 18 Uhr. Ohne Reservierung.
Hämisches Lachen und mitleidiges Kopfschütteln. Überall.
Gerne auch den Katzentisch.
Ohne Reservierung? Keine Chance! Kommen Sie nächstes Jahr wieder.

Das wird sicher nicht geschehen. Die deutsche Ostseeküste ist lang, abwechslungsreich und schön. Und wer sucht, findet sie auch: die kleinen Rückzugsgebiete, die sich vorm Massentourismus noch verborgen halten.

Der Abend endet am Hafen zwischen Pizzerien und Eiscafés in einer Art Bistro-Kneipe mit Blick auf die Backfischstände. Es gibt einen Sitzplatz und Essen mit Besteck von Porzellantellern. Der Fisch und die Bratkartoffeln sind erträglich. In Berlin gibt es das Ganze fürs gleiche Geld - in besserer Qualität. Nur statt Möwen schauen einem dort Tauben beim Essen zu.

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Kommentare

Kommentar von Problemcousine |

Man isst in Mecklenburg niemals ein BACKfischbrötchen. Wenn Ihr ein Kräutermatjesbrötchen gewählt hättet, mit Bäckereigrundlage ( gibt es auch) , wäret Ihr sicher zufriedener gewesen. Ansonsten ist der Ausblick und die kritische Wertung von erstmaligen Besuchern auf die bräsigen Einsichten und vorgefassten Meinungen der (fast) Ortsansässigen schon interessant. Gruß aus dem Norden

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