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Erschüttert

von (Kommentare: 5)

Auferstehen aus Ruinen

Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir hier gar nicht haltgemacht. Am Ende blieben wir drei Nächte. Weihnachten inklusive. In Christchurch war ich erst- und letztmalig 1995. Schon damals empfand ich die Stadt wie einen in die Breite gewalzten Sauerteig. Die Innenstadt war mir vor allem mit ihren alten Gebäuden im Gedächtnis geblieben.

Dennoch ging es mir durch und durch, als die zweitgrößte Stadt Neuseelands am 22. Februar 2011 zu Boden ging. Sie wurde von einem Leberhaken aus 5 km Tiefe niedergestreckt. Mit einer Wucht von 6,3 Mw auf der Momenten Magnituden Skala (Höchstwert=10,6). Die an Erdbeben gewohnte Stadt hat sich bis heute - fast 9 Jahre später - nicht von diesem Schlag berappelt. Sie ist wieder auf die Knie gekommen - aber noch längst nicht auf die Beine.

Die Löcher, die in die innerstädtische Infrastruktur gerissen wurden, lassen den Rest aussehen wie die Überbleibsel eines kariösen Gebisses. Etliche Gebäude fehlen. Andere sind gesichert und nicht mehr in Betrieb und liegen im Stadtbild wie Patienten auf Station, die auf die lebensrettende Operation warten oder ihr Ende. Uns scheint allerdings, als wollte oder könnte niemand hier entscheiden, ob und wie es weitergehen soll. Die Selbstanfeuerungen und Ermutigungen, die allerorten plakatiert und zu lesen sind und den Wiederaufbau beschwören, haben teilweise ihre selbstgesteckten Erreichbarkeiten bereits überschritten und wirken nun erst recht wie das Pfeifen im dunklen Wald.

Was will man sonst auch tun, wenn man hier ansässig ist? Komplett in Depression verfallen? Oder doch lieber abhauen und wo anders neu anfangen? Wo die Erde nicht in relativ kurzen Abständen immer mal wieder einen spontanen Twist hinlegt. Denn soviel ist sicher: Das nächste Beben kommt bestimmt.

In der Fußgängerzone wird Eis verkauft. Restaurants haben volle Tische, die Leute sitzen in der Sonne. Vor der zerstörten Kathedrale spazieren die Touristen, fotografieren, kaufen Andenken. Trotzdem liegt über allem eine Lähmung, wohin man auch schaut, wird das Zerstörte gestützt und das Neue erwartet. Brachflächen, die von den Möwen erobert wurden, wirken wie Filmkulissen, die einfach stehengelassen wurden.

Was wir sehen, fühlt sich wie eine Lähmung an, eine Agonie. Eine Stadt, im Moment des Schreckens angehalten. Standbild seit dem. Wird sie sich je weiterbewegen?

Dabei gibt es sie noch, die schönen Flecken oder das, was für einen Besuch von Christchurch spricht. Nicht ohne Grund trägt sie auch den Beinamen „Stadt der Gärten“. Den größten, den Hagley Park mit dem Botanischen Garten besuchen wir bei bestem Wetter.

 

A Walk in the Park

Die Anlage ist riesig. Sie lädt ein zu Sport und Spiel oder ermöglicht den Besuchern, in liebevoll angelegten und thematisch durchdachten Parzellen zu verweilen und Luft zu holen.

Wir genießen das Sommerwetter am Heiligabend und - zum wiederholten Mal auf unserer Reise - die gepflegten und schönen öffentlichen Gärten. Wir würden jede Wette eingehen, dass eine solche Anlage - wie hier nicht umfriedet und für die Allgemeinheit rund um die Uhr kostenlos zugänglich - in Deutschland eine Halbwertzeit von weniger als einer Woche hätte. Dann würden wahrscheinlich Vandalismus, Graffitis und Sachbeschädigungen, wilde Grillplätze und verstreuter Müll das Bühnenbild für das deutsche Großstadtdrama bieten: „Polizei jagt Drogendealer“.

 

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Kommentare

Kommentar von Miriam |

Liebe Beide, zum einen wünsche ich noch frohe Weihnachten, zum anderen würde mich brennend interessieren, warum andere Menschen sorgsamer mit öffentlichen Dingen/Plätzen umgehen, eine Idee?

Kommentar von Martina |

Tja, die Frage stell ich mir auch immer wieder. Als wir vor 20 Jahren hergezogen sind, war der Hochmeisterplatz ein hübscher kleiner Park mit gepflegten jahreszeitlichen Blumenrabatten, regelmäßiger Rasenpflege, gestutzten Büschen und Bäumen. Dann hatte der Bezirk ( einer der reichsten in der Hauptstadt eines der reichsten Länder der Welt) kein Gelde mehr dafür und jetzt ist diese kleine Oase ein heruntergekommene Hundeauslauf mit überquellenden Abfallkörben, verschmitzten Bänken und zerbrochenen Flaschen...

Kommentar von Simone |

Liebe Frau Freywald, liebe Martina,
Das fragen wir uns hier auch sehr oft. Es gibt so viele schöne öffentliche Plätze, Parks, Anlagen, Spielplätze für Kinder u.s.w. Alle sind immer jederzeit zugänglich und trotzdem gepflegt und sauber und einladend. Wir denken, auch viele private Initiativen bringen sich ein. Oft sieht man kleine Schilder oder Tafeln mit Spendernamen, z.B. an Bänken oder so.
Rotary oder Lions machen viel und „schreiben darüber“. In der Öffentlichkeit präsent zu sein mit guten Taten für die Öffentlichkeit, irgendwie so? Ein Phänomen?

Kommentar von Peter |

Liebe Miriam, liebe Martina,
die Antwort auf die Frage, warum bei uns so etwas nicht möglich scheint, läuft immer Gefahr, Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Meine Vermutungen dazu sind also nicht nur subjektiv sondern auch ohne fundierte Kenntnisse über die Neuseeländische Gesellschaft. Gründe könnten sein:

- das grundsätzliche Verhältnis der Neuseeländer zu ihrem Land und ihrer Natur; die wertschätzen sie und versuchen sie zu bewahren; das „Tiaki Promise“ wird wie ein Glaubensbekenntnis bereits den Kindern hier vermittelt und auch den Besuchern nahegelegt
- die gesellschaftliche Verantwortung liegt in diesem bevölkerungsarmen Land (ca. 5 Millionen Einwohner) nicht immer und sofort beim Staat oder offiziellen Institutionen; die Menschen erledigen selbst, was zu erledigen ist und wenn es zu erledigen ist
- gesellschaftliche Organisationen, ob religiöse, nichtkonfessionelle Interessengruppen, Nachbarschaftshilfen etc. übernehmen partielle Verantwortungen für Projekte und Lebensbereiche; „man“ kümmert sich selbst um seinen unmittelbaren Bereich
- Mängel werden zeitnah beseitigt

Im Park in Christchurch war abseits der Gastronomie kein Mülleimer zu finden. Müll aber auch nicht! Wir wissen nicht, ob er nicht verursacht oder sofort beseitigt wird.

Grafittis und Vandalismus haben wir nur gefunden bei brachliegenden Gebäuden oder Ruinen, um die sich offensichtlich jahrelang niemand gekümmert hat. Ansonsten findet man hier „Street Art“ an den Hauswänden und keine Schmierereien.

Im Gegensatz dazu konstatiere ich persönlich für Deutschland:

- es wird immer nach der Obrigkeit verlangt, um selbst einfache Probleme zu erledigen
- wir haben uns mit Missständen arrangiert und finden uns damit ab, je länger sie anhalten
- unser Verständnis von Freiheit schliesst Rücksichtnahme und Verantwortung in Bezug auf das Allgemeinwohl immer mehr aus
- in Deutschland ist es üblich, zuerst „sein Recht“ einzufordern. „Pflicht“ findet im gesellschaftlichen Kontext nicht mehr statt

Kommentar von Problemcousine |

Die Freuden der Pflicht - Siegfried Lenz hat vor 50 Jahren dieses Thema in "Deutschstunde" thematisiert. Ich denke, auch heute sollte man neu über den philosophischen Ansatz dieser Fragestellung diskutieren. Wird aber nicht passieren, da sich mittlerweile jeder selbst der Nächste ist. Schade. Ein besinnliches 2020 mit weiterhin tollen Erlebnissen wünscht Euch Jens

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