Arktischer Frühling
von Peter Schäfer (Kommentare: 0)
Noch zweimal schlafen, dann sind wir am Nordkap. Vorher heißt es aber noch ordentlich Strecke machen. Kurz hinter Harstad geht es auf die nächste Fähre. Obwohl noch weit entfernt, fühlt es sich langsam an wie Polarmeer. Schneebedeckte Bergketten säumen die Wasserränder. Glasklare Luft. Eiskalt. Erfrischend wie Eiswürfel in einem Sommergetränk. Feinstaub, Abgase, Lungenkrankheit – Begriffe, die vermutlich in keinem norwegischen Wörterbuch zu finden sind.
Keine blinden, sondern oliv-grüne Passagiere, bis an die Zähne bewaffnet, statten der Fähre während der Fahrt einen Überraschungsbesuch ab. Zuvor hatten sie sich in kleinen Schlauchbooten an uns herangewanzt. Die vermummten Männer tragen norwegische Hoheitsabzeichen. Wir sind beruhigt.
Es ist das vierte Mal, dass ich Tromsø besuche. Zum ersten Mal nähere ich mich der Stadt im Auto. Weit vor dem Ortsschild erkennen wir bereits die ausladende Tromsø-Brücke. Die Altstadt liegt auf einer Insel.
Auf der rechten Seite schiebt sich die legendäre Eismeerkathedrale ins Bild. Bei keinem der vorherigen Besuche ist es mir gelungen, das Wahrzeichen der Stadt zu betreten. Damit es diesmal gelingt, beziehen wir Quartier in Sichtweite des architektonischen Wunderwerkes. Das Gebäude ist kompakt und transparent. Mich fasziniert die formschöne Vielseitigkeit. Je nach eigenem Standort gibt die Kathedrale vor, etwas anderes zu sein, als sie wirklich ist. Die Dachschrägen reichen bis an den Boden und bilden an den Längsseiten zugleich die Außenwände. Die Silhouette erinnert an die westlich von Tromsø gelegene Insel Håja. Unweigerlich kommen einem aber auch die landesüblichen Trockengestelle für Stockfisch in den Sinn.
In Tromsø gibt es von vielem das nördlichste der Welt: die nördlichste Universität, das nördlichste Filmfestival, nördlichstes Arktis-Erlebniszentrum, nördlichster botanischer Garten, nördlichste Brauerei und der nördlichste McDonald’s.
In der von Holzhäusern geprägten Innenstadt reihen sich Souvenirläden aneinander, die alles anbieten, was mit der indigenen Sami-Kultur zu tun hat. Ein Indiz für die Beliebtheit Tromsøs als Reiseziel.
Die Stadt wurde einst sogar als „Paris des Nordens“ geadelt. Naja. Nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich.
Nach Tromsø geht es weiter entlang der Küste über Inseln und Fjorde, bis wir in die Finnmark einfahren. Es ist der flächenmäßig zweitgrößte und mit nur 1,5 Einwohnern pro Quadratkilometer am dünnsten besiedelte Verwaltungsbezirk Norwegens. Im äußersten Nordosten des Landes gelegen, gibt es hier eine direkte Grenze zu Russland und Finnland. Die wenigen Menschen und kaum stattfindender Verkehr auf den Straßen, lässt die unglaubliche Natur noch massiver auf uns wirken. Einmal mehr ist das ein bisschen viel für unsere Sinne, um alles bereits an Ort und Stelle verarbeiten zu können.
In Alta, mit 16.000 Einwohnern die größte Stadt in der Finnmark, werden wir wieder geerdet. Die Unterbringung ist – gelinde gesagt – einmal mehr rustikal. Wir beklagen uns nicht. Wir haben längst kapiert, dass die uns umgebende brutal-schöne Natur die Erfüllung existentieller Bedürfnisse gleichzeitig zu einem unglaublichen Luxus macht: Dach überm Kopf, Heizung, fließend Wasser, Nahrung.
Die Zielgerade zum Nordkap zieht sich über 250 Kilometer hin. Endlose Straße durch endlose Landschaft. Hier und da Anzeichen von Leben. Ortschaften im Schnee. Rentiere. Autos. Wanderer.
Wir erreichen Skarsvåg. Das nördlichste Fischerdorf der Welt. Von hier aus sind es noch 20 Autominuten bis zum Nordkap. Um Mitternacht wollen wir dort der Sonne beim Nicht-Untergehen zusehen.
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