Aloha Træna
von Simone Keil (Kommentare: 2)
Am Mittwoch, den 15.05.2024, legen wir 33 Seemeilen vor der Küste des norwegischen Festlandes an einem kleinen Hafen der Inselgemeinde Træna an. In der taghellen Nacht waren Berge mit Schneekuppen an uns vorbeigezogen. Jetzt regnet es und ist deutlich kühl geworden draußen. Norwegen zeigt sein Klischee-Gesicht - nachdem wir in Stavanger und Bergen von Sonnenschein und sommerlichen Temperaturen verwöhnt worden waren.
Wir ziehen Regenjacken an und stapfen drauf los, die Hände in den Taschen.
Und schon nach dem Verlassen des Hafengeländes denken wir, wir sind im falschen Film: Wir stehen, mitten im Nordmeer, vor einem kleinen bunten Café mit dem leuchtenden Namen „ALOHA“.
Ein paar Schritte weiter stoßen wir auf das Helgelandmuseum, ein kleines Wohnhaus, wo wir durch die Zimmer schlendern und auf die Geschichte treffen, die mich sofort in ihren Bann zieht: Die Geschichte von Alma und Theodor, dem Geschwisterpaar, das sich nie persönlich getroffen hat.
Kurz vor der Jahrhundertwende, im Jahr 1899, verließ Theodor seine Heimatinsel Træna und sein Geburtsland Norwegen, wie seinerzeit Hundertausende seiner Landsleute, um sein Glück anderswo in der Welt zu suchen. Theodor war gerade 18 Jahre alt, seine Familie hatte von Fischfang gelebt und sich einen kleinen bescheidenen Wohlstand in der unwirtlichen Gegend erarbeitet. Trotzdem zog es den jungen Mann in die Welt hinaus, aber er wusste damals noch nicht, dass er nie wieder zurückkehren würde.
Als er schon drei Jahre unterwegs war, und sich gerade im südlichen Amerika befand, wurde zuhause das elfte und letzte Kind seiner Familie geboren: Seine kleine Schwester Alma.
Während das Kind heranwuchs, schickte Theodor seiner Familie Briefe, in denen er exotische Länder und spannende Ort beschrieb. Vielleicht hat die kleine Alma die Briefe ihres unbekannten Bruders aufgesogen wie andere Kinder die Märchen, die die Alten erzählten.
1906 hatte Theodor sich in Kalifornien niedergelassen und schrieb seiner Familie von seinem Leben im Sonnenstaat. Im Jahre 1912 zu Weihnachten bekam Alma, gerade 11 Jahre alt, ihren ersten eigenen Brief von ihrem Bruder. „Du schreibst sehr gut und erzählst mir so viele Neuigkeiten, was Deinen Brief so interessant macht. Danke für die Postkarte vom Leuchtturm“, schreibt er seiner Schwester.
Ein paar Jahre später siedelte Theodor nach Hawaii über, und beschrieb in seinen Briefen und bunten Postkarten das Leben der Einheimischen, die weißen Strände, das immer warme Meer, die wunderbare Natur und die bunten Schiffe, die hier jeden Tag anlandeten oder vorbeifuhren. Für Alma, ein junges Mädchen im Teenageralter, das nie weiter als bis zu den Nachbarinseln gekommen war, muss es das Paradies schlechthin gewesen sein, das sie sich vorstellte, wenn sie auf die schroffen Felsformationen der Nachbarinsel Sanna schaute.
1925 schickte Theodor seiner Schwester eine Kamera, mit der sie von da an das Leben auf der Heimatinsel dokumentierte und viele ihrer Fotos an ihren Bruder auf der anderen Seite der Welt schickte.
Alma lernt das Fotografieren und Entwickeln von Bildern. Ihre Aufnahmen und der Briefwechsel mit ihrem Bruder im tausende Seemeilen entfernten Hawaii werden zu einer sehr persönlichen Dokumentation eines ganzen Jahrhunderts. Unschätzbar für die Nachkommen, erzählen ihre Fotografien die Geschichte ihrer Familie und der ganzen Inselgruppe und ihrer Bewohner. Später heiratet Alma, bekommt selbst Kinder, zieht auf eine der benachbarten Inseln. Theodor in der Ferne gründet keine Familie, verliert in der Zeit der Wirtschaftskrise sein Geschäft auf Hawaii und zieht Ende der 1930er Jahre verarmt nach Kalifornien zurück. Seine Briefe werden spärlicher – und erst im Mai 1950 kommt ein Brief an Theodor nach einem langen Weg zurück nach Norwegen.
So erfahren Alma und ihre Geschwister, dass Theodor im Januar 1950 verstorben war.
Alma lebte noch lange auf den norwegischen Træna-Inseln. Sie fotografierte ihr gesamtes Leben mit der Kamera, die sie von ihrem Bruder bekommen hatte. Sie sammelte liebevoll alles, was er ihr je geschickt hatte, hielt seine Briefe und Geschenke in Ehren und sorgte dafür, dass seine Hinterlassenschaften an ihre Familie weitergegeben wurden.
Alma starb 1997 im Alter von 96 Jahren in ihrer Heimat, auf den Inseln, die sie ihr Leben lang nicht verlassen hatte. Sie und ihr Bruder haben sich nie getroffen, und waren doch für immer miteinander verbunden.
Als man Jahre später die schöne Geschichte von Alma und Theodor wiederentdeckte, wurde sie einem breiten Publikum vorgestellt. Norwegische Künstler hörten davon und kamen nach Træna, um Almas Porträtfotos der Inselbewohner fortzusetzen, Projekte und Kunsthappenings entstanden, eine Schulklasse stellte die Geschichte auf der Theaterbühne dar, man tauschte Briefe mit Schulklassen auf Hawaii aus. Und schließlich wurde auf der Hauptinsel Husoya das ALOHA-Café eröffnet, wo neben bunter Bemalung und gezeichneten Hibiskusblüten auch Almas Schwarz-Weiß-Fotos an den Wänden hängen.
Viele von Almas Fotos wurden dauerhaft ausgestellt an Orten, an denen sie vor langer Zeit aufgenommen wurden. So können wir heute, während wir das ALOHA-Café verlassen, und die nebelverhangenen spitzen Felsformationen der Nachbar-Insel Sanna nur erahnen, immer noch die rauhe Landschaft mitten im Nordmeer mit Almas Augen sehen.
Kommentare
Kommentar von Die Kleene |
Was du immer für schöne Geschichten entdeckst. Ganz wunderbar, wie auch schon die Geburtstagskarten von Siegfried an Rosi.
Und durch eure interessanten Beiträge ist man selber voll dabei. Wünsche euch weiterhin eine tolle Reise und freue mich auf eure und Kochmaus Beiträge. Eure treue Leserin dK
Kommentar von Klaus |
Danke für diese wunderbare Geschichte, die ich sonst nie erfahren hätte!
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