66 Grad 33 Minuten Nord
von Peter Schäfer (Kommentare: 2)
My (Nor)Way
Norwegen ist meine erste und damit älteste Freundin. Für die große Liebe hat es allerdings nie gereicht. Meine Besuche waren zu sporadisch. Zudem hüllt sich die lange Schlanke jedes Jahr zu lange in Dunkel. Für Monate ist sie kalt und hart - zu allen Menschen.
Die spröde Schöne hat mich durch wichtige Abschnitte meines Lebens begleitet. Im zarten Alter von 16 Jahren lernte ich sie erstmals persönlich kennen. 600 D-Mark selbst erarbeitetes Taschengeld kostete mich das. Zusammen mit drei Schulkameraden unterwegs in einem klapprigen Auto durch Schweden und Norwegen. Bis Trondheim kamen wir.
Danach besuchte ich sie immer wieder. Per Auto, Schiff, Flugzeug und mit dem Fallschirm. Ich sprang aus Fliegern und von der 1000 Meter hohen Steilwand des Trollveggen. Über den größten Fallschirmsprungplatz Norwegens veröffentlichte ich eine Fotoreportage.
Vom Norwegischen Olympischen Komitee wurde ich mit anderen eingeladen, an einem Video mitzuwirken, das zu Eröffnung der Olympischen Winterspiele in Lillehammer 1994 weltweit ausgestrahlt wurde. Die Aufnahmen drehten wir im Hochsommer 1993 in Südfrankreich. Bei der Ausstrahlung war die Illusion perfekt, dass ein Haufen Trolle hoch über Lillehammer mit ihren Sportgeräten aus dem Himmel fielen.
https://www.youtube.com/watch?v=ySSS-Z0qGXo (ab Minute 1:10)
Jahre später musste ich für einen Fotoauftrag mit Hundeschlitten durchs verschneite Land und versuchte meine Vierbeiner und Kameras unter Kontrolle und in Gang zu halten. Zuvor waren wir mit einer Propellermaschine von Kassel nach Røros geflogen, inklusive sechs Schlittenhunden an Bord.
Meinen ersten norwegischen Winter erlebte ich als junger Leutnant der Bundeswehr. Im Rahmen eines Offiziersaustausches trug ich norwegische Uniform. Zwei Wochen verbrachte ich darin, lief in metertiefem Schnee Ski und schlief in Schneehöhlen. Bei 20 Grad minus. Herrlich unvergesslich.
Ich kannte die inneren Werte des Landes einigermaßen, bevor ich zum ersten Mal das Ganze von außen betrachtete. Mit meinem Vater fuhren wir 2007 und 2009 die Küstenlinie Norwegens auf einer kleinen Nussschale der Hurtigruten ab. Schiffe, die in Dienst gestellt wurden, bevor ich geboren war und lange bevor die heutige Kreuzfahrerei das traditionelle Post- und Frachtgeschäft ablöste.
Der letzte Ausflug dieser Art, diesmal auf einem der neuen Schiffe, liegt gerade ein Jahr zurück. Mit den Eltern und der Gemahlin brachen wir als familiäre Kleingruppe in Hamburg auf zum Nordkap. Eine weitere unvergessliche Reise entlang des längsten Freilichtkinos der Welt, das ohne Menschen auskommt. Während dieser Reise keimte die Idee in mir auf, das Ganze mal von der anderen Seite zu betrachten. Von der Straße aus. Und genau das passiert jetzt gerade.
In Trondheim haben wir die Hälfte der Strecke geschafft - bis zum nördlichen Polarkreis. Das Nordkap liegt danach noch einmal so weit entfernt. Das bescheidene Wetter hält an, kann uns aber nicht die gute Laune verderben. Unterwegs treffen wir immer auf ein freundliches Lächeln.
Der Tag endet für uns in Mo I Rana. Ein weiterer Ort, der so aussieht, als wüsste er nicht wohin mit sich. Beim Frühstück in der Unterkunft spricht uns Jacob an, ein junger Motorradfahrer aus Rostock. Seine Maschine steht außerhalb des Ortes an einer Werkstatt. Er fragt nach einer Mitfahrgelegenheit. Da ist er bei uns goldrichtig. Martin fühlt sich an seine eigenen Motorradtouren erinnert und die dazugehörigen Pannen. Außerdem ist Jacob ein patenter Bursche, der unser Sohn sein könnte. Oder Enkel? Na, und wenn schon. Wir nehmen ihn mit und wünschen viel Glück fürs weitere Leben.
Wir haben nur noch Augen für den Polarkreis. Da es sich bei dem um eine mathematisch-virtuelle Angelegenheit handelt, gleichen wir die Karte auf dem Handy ab mit möglichen Hinweisen auf die magische Linie. Schön wäre ein fotogenes Schild oder ein Stein mit Plakette. Schließlich gibt’s ein Recht auf Selfie.
Als wir laut Navi die Ziellinie kreuzen, entdecken wir nichts von alledem. Die Straße führt weiter, ohne einen einzigen Anhaltspunkt. Wir sind enttäuscht. Das ist eindeutig ein Fall fürs norwegische Tourismusministerium. Da gibt es Nachholbedarf.
Plötzlich, 15 Kilometer weiter, sehen wir, was wir ganz woanders vermutet hatten. Parkplatz, Autos, Skulpturen, ein Gebäude mit 66°33' auf dem Dach, die Koordinaten für den nördlichen Polarkreis. Na also, geht doch. Aber wie kann man sich so vertun?
Die einzigen, die sich vertan haben, sind wir. Die Europastraße E6 kreuzt hier oben auf einer Strecke von gut 15 Kilometern gleich dreimal den Polarkreis. Wären wir von Norden gekommen, hätten wir davon allerdings nichts mitbekommen. Wir sind versöhnt und lernen einmal mehr: Reisen bildet.
Ab jetzt wird es arktisch. Karg. Einsam. Schneelandschaften. Gefrorene Seen und Flüsse. Einige angetaut. Und über alldem endlich wieder blauer Himmel. So sieht er hier also aus, der Frühling. Baumblütenfeste werden woanders gefeiert.
Noch bevor wir Narvik erreichen, passieren wir die ersten Denk- und Mahnmale, die an die schweren Kämpfe zwischen Deutschen und Engländern 1940 erinnern. Das Fischerdorf mit seinem wichtigen Hafen brannte bis auf die Grundmauern nieder. Rund um den Ofotfjord, an dem Narvik liegt, erinnern zahlreiche Gedenkstätten an das, was Nazideutschland damals für sich als Sieg verbuchte.
In der Stadt ist von alldem nichts zu spüren. Die Straßen borden über vor fröhlichen, feiernden Menschen. Heute ist Nationalfeiertag. Nach hunderten Kilometern Fahrt durch fast menschenleere Landschaft mischen wir uns unter die Leute und lassen uns anstecken von ihrer guten Laune.
Gleichzeitig feiern die Abiturienten das Ende ihrer Schulzeit. Einmal noch lassen sie ordentlich die Sau raus. Demütig und altersweise freuen wir uns mit ihnen. Bald wird auch ihnen der Ernst des Lebens zeigen, dass Schule nicht der schlechteste Abschnitt im Leben ist.
Kommentare
Kommentar von Maximiliane |
Mensch Peter, weißt du, dass Røros meine Lieblingsstadt in Norwegen ist?! Dieses süße kleine alte Bergbau Städtchen, das zum nationalen Erbe gehört, hat so viel zu entdecken und einen wahnsinnigen Charme. Ich freue mich immer wie Bolle, wenn ich dieses legendäre Hundeschlittenrennen nach Røros sehe oder diesen süßen norwegischen Weihnachtsfilm, der dort gedreht wurde. Einmal war ich direkt am 17. Mai dort, das ist ja der Nationalfeiertag und es war eine so wunderbare friedliche feierliche Stimmung, das werde ich nie vergessen.
Gut, das hat jetzt nicht viel mit deiner Reise zu tun, aber als ich Røros las, war ich so angetan! LG
Kommentar von Peter |
Liebe Maxi, es hat jede Menge mit unserer Reise zu tun. Norwegen ist so vielseitig und im Sinne des Wortes unfassbar - schön. Ich bin natürlich überrascht und freue mich, dass Du Røros kennst. Dann sind wir ja schon zwei ;-)
Und alles, was Du daran erinnerst, teile ich. Es ist die perfekte Kulisse für wundersame und geheimnisvolle Geschichten. Ich sollte unbedingt mal wieder dorthin.
Liebe Grüße. peter
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