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33 Jahre und drei Wochen später

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Etosha ist der nördlichste Punkt unserer Reise. Wir verlassen den Park, verbringen eine Nacht in Tsumeb und fahren dann weiter gen Süden für einen weiteren Stopp, bevor wir in Windhoek unsere Reise beenden werden.

Wir steuern den Großen Waterberg an, einen beeindruckenden Tafelberg, der inzwischen ebenfalls in einem Nationalpark liegt. Das knapp 50 Kilometer lange, 20 Kilometer breite und seine Umgebung um 200 Meter überragende Bergmassiv liegt wie hingeworfen in der Landschaft. Wir sehen ihn, lange bevor wir in seine Nähe gelangen. Ihm gegenüber liegt der Klein-Waterberg, an dessen Fuße wir in einer unfassbar schönen Villa Quartier beziehen. Von dort haben wir eine leicht überhöhte Aussicht auf das Land vor uns. Die Anlage bietet einen tollen Pflanzenmix und großen Artenreichreichtum. Diesmal sehen wir vor allem kleineres Getier wie Vögel und Insekten, die in all ihrer Vielfalt um uns herumflattern und brummen.

In der Nacht ist es stockdunkel. Die Sterne stehen wie an den Himmel genietet über uns. Wir kommen uns vor wie die letzten Menschen. Oder die ersten?

Am nächsten Morgen statten wir dem nahegelegenen Waterberg-Plateau-Park einen kurzen Besuch ab. Neben seiner Schönheit steht dieser Ort symbolisch für das düsterste Kapitel zwischen Namibia und Deutschland. Hier entschied sich 1904 im Kampf gegen die kaiserliche Schutztruppe das Schicksal der aufständischen Herero-Stämme. Das Volk der Herero verlor 80% nicht nur seiner Kämpfer, sondern auch ihrer Familien, Frauen und Kinder. Die Geschehnisse gelten als der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts.

Auf einem kleinen Friedhof finden sich die Grabstätten einiger deutscher Soldaten, die in diesem Krieg ihr Leben verloren. Wir stehen betroffen und ratlos vor den Inschriften, die deutsche Geburtsorte ausweisen und versuchen eine Idee vom Zeitgeist und den Menschen in Deutschland vor über 120 Jahren zu bekommen. Die meisten Männer, die hier liegen, sind sehr jung gestorben. Den „Heldentod“. 10.000 Kilometer von ihrer Heimat entfernt. Für Kaiser und Vaterland. Wirklich? Selbst, wenn wir aus heutiger Sicht über das Vergangene urteilen, werden wir es deswegen noch lange nicht verstehen.

Zum Abschluss also Namibias Hauptstadt Windhoek. Mit über 300.000 Einwohnern ist sie zugleich die größte des Landes. Eine alte Steinfestung, die „Alte Feste“, die zum Ende des 19. Jahrhunderts entstand, gilt als architektonischer Ursprung des modernen Windhoeks. Sie wurde von der deutschen Schutztruppe errichtet. Das alte Bauwerk liegt in der Nähe dessen, was man in gewisser Weise als Zentrum der Stadt bezeichnen könnte. Was sich gerade etwas schwammig anhört, ist auch so. Windhoek zerfällt in die Breite, ohne dabei eine wirkliche Mitte anzubieten. Im besten Fall könnte man die kilometerlange Independence Avenue (ehemals Kaiserstraße), als eine Art roten Faden der städtebaulichen Entwicklung identifizieren. Ebenfalls im historischen Zentrum ist die Christuskirche zu finden, ein weiteres der wenigen ansehnlichen Gebäude in der Stadt.

Wir besuchen die Alte Feste, in der (veröffentlichten) Annahme, dass wir hier ein geschichtliches Museum vorfinden. Was wir tatsächlich sehen, ist eine ehemals ansehnliche Immobilie, die offensichtlich seit langen Jahren vor sich hin rottet. Aus den Fenstern wächst Gras. Die Vögel niesten in den Ecken der Veranda. Es scheint wenig Interesse zu bestehen, die Substanz zu erhalten und einer sinnvollen, öffentlichen Nutzung zuzuführen. Wir können nur spekulieren, warum das so ist. Ein Grund könnte sein, dass die Alte Feste auch ein Symbol für die deutsche Kolonisierung ist, der man nicht unnötige Denkmäler setzen will.

Das ebenfalls für Windhoek ikonische Reiterdenkmal verschwand zumindest aus genau diesem Grund aus dem Stadtbild. Die Bronze, die einen berittenen Schutztruppensoldaten zeigte, wurde 1912 installiert und erinnerte ausschließlich an die deutschen Opfer der Aufstände zwischen 1903 und 1907. Erst 2014 wurde es endgültig durch eine Plastik ersetzt, die an den Befreiungskampf und an die Opfer aus dieser Zeit auf namibischer Seite erinnert.

Der Gipfel der nationalen Erinnerung und Mahnung findet sich nur unweit der Feste und des Mahnmals - im Unabhängigkeits-Gedenkmuseum. Es hat seinen Platz in einem ebenfalls 2014 neu eröffneten Bauwerk gefunden. Im Gegensatz zu den sonstigen architektonischen Belanglosigkeiten Windhoeks sticht einem diese bauliche Konstruktion bereits von weitem ins Auge. Wir werden an einen überdimensionierten Reiskocher auf drei Beinen erinnert, der gold-bronzen vor sich hin glänzt. Dabei werden wir das dumpfe Gefühl nicht los, solche wenig gekonnte Protz-Architektur schon mal gesehen zu haben, ursprünglich allerdings nicht in Afrika.

Und tatsächlich, was sich da unpassend im Stadtbild exponiert und dem Architekturgeschmack 5-jähriger Kinder nahekommt, stammt vom Reißbrett bis zur Fertigstellung aus nordkoreanischen Köpfen und Händen. Hässlicher gehts kaum. Ein realsozialistischer Pathos-Klotz. Geschuldet ist der Bauauftrag den Verbindungen zwischen der namibischen SWAPO und den ehemaligen Verbündeten des kommunistischen Lagers während der jahrzehntelangen Befreiungskämpfe.

Wie wir erfahren, war auch die einheimische Bevölkerung selbst wenig erbaut über die Aufstellung dieses Monstrums. Und wie sehr sie es wertschätzen, erleben wir bei unserem Besuch aus nächster Nähe mit. Nach 10 Jahren sieht es schon ziemlich runtergewirtschaftet und ramponiert aus. Mangelnde Pflege und Instandhaltung. Von drei Aufzügen funktionieren noch zwei. Die Treppenhäuser sind ohne Licht, Schalter und Leitungen hängen aus den Wänden. Die Toiletten sind geschlossen und vergittert. Der Aufsteller mit den Info-Broschüren zum Museum ist leer. „Gerade ausgegangen“, wie wir auf Nachfrage erfahren, ohne wissen zu wollen, wieviele Jahre sich hinter „gerade“ verbergen.

Auch die Ausstellungen im Inneren, verteilt auf drei Etagen, setzen sich in altbekannter, unmoderner Totalitär-Ästhetik fort. Wen man auf diese Weise heutzutage damit erreichen will, erschließt sich uns ebenfalls nicht. Dabei ist die Geschichte Namibias so wechsel- und schicksalhaft, dass es reichen würde, die reinen Fotografien aus der Zeit – die reichlich vorhanden sind – ordentlich zu beschriften und für sich sprechen zu lassen. Das Grauen braucht keine Überhöhung. Im Gegenteil: die nordkoreanischen Schlachtengemälde verleihen dem ehemaligen Leiden und Kämpfen der Menschen etwas Tragikomisches.

 

Das Schlimmste am Mostrumbau – seine Höhe – bietet uns immerhin den mit Abstand besten Blick auf die Stadt. Das Restaurant in der oberen Etage wird gerade umgebaut und ist leer. Aber es gibt trotzdem einen Kaffee auf der Terrasse: Von ganz oben sieht Windhoek fast schon verlockend schön aus.

Der Wunsch, etwas Zeitgenössisches zu finden, das vielleicht für ein modernes Namibia steht, treibt uns in die nationale Kunstgalerie Namibias. Ein eher kurzer Aufenthalt. Die Anzahl der Exponate und ihre Qualität (unseren Geschmack betreffend) sind ein Hinweis darauf, dass das große Land nur über zweieinhalb Millionen Einwohner verfügt, von denen es für die meisten handfestere, tägliche Probleme geben dürfe, als sich mit Kunst zu beschäftigen. Das ist umso bedauerlicher, da wir die Erfahrung gemacht haben, dass afrikanische Kunst unfassbar kraftvoll und sehr eigen sein kann, wenn sie nicht versucht, sich fürs Museum zu qualifizieren, sondern einer Befindlichkeit und einem Lebensgefühl entspringt.

18.00 Uhr. Die Sonne neigt sich gen Westen und legt einen goldenen Dunst über die ausgebreitete Stadt unter uns. Der Himmel ist wolkenlos. Temperatur: 35 Grad Celsius. Ein letztes Bier. Eine letzte Pizza.

2.757 Kilometer haben wir in den vergangenen 15 Tagen zurückgelegt. Was wir gesehen und erlebt haben, war so intensiv, dass wir es nicht nur nicht vergessen werden, wir müssen es erstmal richtig verarbeiten.

Käme Namibia nochmal als Reiseziel infrage? Ganz sicher. Wann? Eine Frage, vor der ich schon einmal stand. 33 Jahre und drei Wochen später wurde sie schließlich beantwortet. Gemeinsam mit der Roten, für die es ihr erster Besuch in diesem Land war.

Neun Monate nachdem das Land im März 1990 seine Unabhängigkeit deklariert hatte, war ich zum ersten Mal in Namibia. Im Januar 1991 lud mich ein befreundeter Geologe, der in Namibia arbeitete, ein, ihn eine Woche lang zu begleiten. Wir waren uns über den Jahreswechsel beim Fallschirmspringen in Südafrika begegnet.

In einem Parforceritt legten wir an einem Tag die 1.400 Kilometer lange Fahrt von der südafrikanischen Grenze zu Botswana bis nach Windhoek zurück. Wie es sich für anständige Skydiver gehörte, machten wir am darauffolgenden Tag erstmal einen Sprung auf dem städtischen Flughafen, mitten in Windhoek bei dem damals dort ansässigen Club „Desert Skydivers“.

Danach ging es nach Norden, durch das Damara-Land bis hoch ins Kaokoveld vor der angolanischen Grenze. Ich erinnere mich an Warnschilder, die Straßen nicht zu verlassen: Es herrschte Minen-Gefahr, die hier noch immer nach den seinerzeit noch nicht lange zurückliegenden Kriegsaktivitäten herumliegen konnten.

Eine Nacht verbrachten wir in einer Lodge, die es heute noch gibt. Am Arbeitsplatz des Geologen, einer abseits liegenden Hügellandschaft, übernachteten wir in einem einfachen Steinhaus ohne Strom und ohne fließendes Wasser. Dafür spazierten morgens um sechs Giraffen ums Haus. Die Fahrt zurück bei Temperaturen über 40 Grad in einem Auto ohne Klimaanlage erfolgte mit allen geöffneten Seitenfenstern. 12 Stunden Lufttrockung am lebenden Objekt.

An all das muss ich denken, als wir im Jahr 2024 in einem wohltemperierten Auto das Land bereisen. Mein halbes Lebensalter später finde ich mich in derselben Gegend wieder, fahre teilweise dieselben Strecken von damals ab. Es kommt mir vor, als sei ich nie weggewesen.

Seit 1990 war ich Verleger und Herausgeber der Zeitschrift „BLUE SKY - Fallschirmsport - Freizeit - Reisen“. Zu Hause krame ich die Ausgabe 2/1991 heraus. Aufgrund meines Ausfluges erschien in meinem Magazin ein 8 Seiten langer, von mir verfasster Bericht über Namibia. Ich lese ihn mit Erstaunen - und stelle fest: bis auf ein paar Kleinigkeiten könnte ich ihn heute genauso wieder veröffentlichen.

Während in den letzten 30 Jahren die Welt unzählige Mehrfachsaltos hingelegt hat, haben sich in Namibia Staat und Gesellschaft nur langsam und unmerklich verändert. Die Natur hat währenddessen nicht mal mit den Augen gezwinkert. Sie liegt noch immer da, genauso wie zu ihrer Entstehung vor 150 Millionen Jahren.

Und was sind meine 65 Jährchen gegen 150 Millionen?

Wenn ich den derzeitigen Besuch-Rhythmus beibehalte, bin ich mit 98 wieder hier. Mal sehen, wie es dann ausschaut. Mit Namibia. Und mit mir.

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